Von den Grenzen der Freiheit
Ein Knabe stand mitten auf dem Stoppelfeld, das als einziges noch an den letzten Sommer erinnerte. Gelassen zerrte er dann und wann an einer dünnen Schnur. Er hatte sie um ein Stück Holz gewickelt, das er mit beiden Händen umspannte. Je nach dem Druck seiner Finger aber bäumte sich hoch oben am Himmel ein großer, papierner Drachen auf, schoss wild umher oder verharrte still in königlicher Würde. Manchmal sah es aus, als habe er das Gesetz der Erdenschwere überwunden und könne nun losgelöst dort oben nach seinem eigenen Willen schweben.
Der Knabe aber lächelte wie ein Herrscher, der um das Gesetz der Freiheit und um die Begrenzung des menschlichen Willens weiß.
Da kam ein Philosoph des Weges. Zu seinem Berufe gehörte es, mehr über den Sinn des Lebens nachzudenken als die übrigen Menschen. Aber über allem Grübeln war er zu einem Skeptiker geworden, der die Enge des menschlichen Erkennens schmerzlich empfand.
Als er den Drachen oben in der Nähe der Wolken sah, erschien er ihm wie ein Gleichnis der stets unerfüllten Sehnsucht des Herzens.
"Schau, mein Junge", sagte er zu dem Knaben, "dein Drachen aus Papier gleicht uns armen Menschen. Wir wollen wie er hoch hinaus, aber schon bald mag uns der Wind wie ihn zu Boden werfen und zerbrechen. So vergeblich ist alles Streben nach Höhe. Es gibt eine Grenze, über die kommen wir nicht hinaus."
Der Junge hatte aufmerksam zugehört und den Philosophen verwundert betrachtet. Dann überlegte er lange, ehe er eine Erwiderung fand.
"Der Drachen kann doch nur in die Höhe steigen, wenn ein kräftiger Wind weht", sagte er und erschrak wegen seiner Dreistigkeit.
"Ja, ja", antwortete der Philosoph, "der Drachen ist auch nur ein Gleichnis für das Widersinnige allen menschlichen Strebens."
"Davon versteh ich nichts", meinte der Knabe fröhlich, "ich weiß nur, dass mein Drachen vom Winde hochgetragen wird bis zu den Wolken, vielleicht sogar bis zum lieben Gott. Doch wenn der Wind plötzlich aufhört, dann fällt er herunter. Neulich zerbrach er sich die Rippen, und das Papier bekam einen bösen Riss. Da musste ich ihn flicken, und das nur, weil es plötzlich ganz ruhig geworden war und kein Windchen wehte."
Jetzt hatte der Philosoph still zugehört und den Knaben verwundert betrachtet. Der schaute träumerisch zu seinem Drachen hinauf, zwang ihm unmerklich durch die dünne Schnur seinen Willen auf und hielt ihn so in einsamer Höhe in der Nähe der Wolken.
"Mein Vater sagt: Ohne Wind und ohne Schnur kann der Drachen nicht steigen, und er wird von keinem Winde geworfen, solange er an der Schnur bleibt. Schnur und Wind sind das Gesetz für ihn. Aber das begreife ich noch nicht richtig."
Der Philosoph schaute den Knaben an. "Dein Vater ist ein weiser Mann", sprach er leise, "wir wollen sehen, ob er Recht hat."
Bei diesen Worten zerschnitt er die Schnur. Entsetzt schrie der Knabe auf und starrte in die Höhe. Der Drachen sprang befreit mächtig nach vorn, dann schüttelte er sich wie vom Grauen gepackt und lag, ehe der Junge das Geschehene recht fassen konnte, zerfetzt und zerbrochen auf dem Stoppelfeld.
Nun dachte der Philosoph den Gedanken des Knaben weiter: Wie der Drachen siegt der Mensch nur dann in den Stürmen des Lebens und steigt zu den Höhen der Reinheit auf, wenn er in den Grenzen der Freiheit bleibt und sich durch das Gesetz Gottes unmerklich und oft unsichtbar der Hand und dem Willen des Schöpfers fügt.
Da tröstete der Philosoph den traurigen Knaben und versprach ihm einen neuen und größeren Drachen.
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