Vom richtigen Lesen

"Soll ich dir ein anderes Kapitel vorlesen, Anna?", fragte Käthe Eberhardt freundlich besorgt ihre Cousine, welche hoffnungslos darniederlag, und zu deren Pflege sie gekommen war.
"Nein, danke, Käthe, jetzt nicht mehr, mein Kopf ist zu müde", war die leise Antwort der Kranken.
Käthe schloss die Bibel mit einer leisen Enttäuschung. Sie wusste, dass Anna langsam einer unheilbaren Krankheit erlag. Was konnte dann für die Dahinsiechende besser sein, als dass sie beständig in der Bibel las? Anna konnte doch wenigstens zuhören, wenn sie selber zu schwach war zu lesen. Käthe war niemals zufrieden, wenn sie nicht täglich ihre zwei oder drei fortlaufenden Kapitel aus der Bibel gelesen hatte und außerdem noch etwas in den Psalmen. Sie hatte ihre Bibel schon einmal von Anfang bis zu Ende durchgelesen. Und hier lag Anna, deren Tage auf Erden gezählt waren, und ein kurzes Kapitel ermüdete sie!
"Hier muss etwas nicht richtig sein", dachte Käthe, die in ihrem ganzen Leben noch nicht einen Tag wegen Krankheit das Bett hatte hüten müssen. Sie seufzte leise vor sich hin: "Es ist traurig, wenn ein Mensch nicht einmal in kranken Tagen und dazu angesichts des Todes das Wort Gottes schätzt."
"Anna", sagte sie, indem sie sich bemühte, ihre von Natur aus laute und scharfe Stimme zu besänftigen, "man sollte meinen, dass du nun, wo du so schwer krank bist, in der Heiligen Schrift besonderen Trost finden würdest."
Anna hatte ihre müden Augen geschlossen, aber nun öffnete sie sie wieder, blickte traurig auf ihre Cousine und sagte: "Den habe ich auch, sie allein ist mein Trost. Ich habe mich den ganze Morgen an einem Vers erquickt."
"Welcher Vers ist das?", fragte Käthe sogleich erstaunt.
"Denselben werde ich mir sehen..." Käthe unterbrach sie schnell: 
"Den Vers kenne ich sehr gut, er steht in Hiob und kommt gleich nach dem 'Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!' Er lautet: "Denselben werde ich mir sehen, und meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder!"
"Was verstehst du unter dem Ausdruck 'kein Fremder'?", fragte Anna bedächtig ihre oberflächliche, geschwätzige Cousine.
"Ach, ich habe diese Worte niemals besonders beachtet", war deren Erwiderung. "Haben sie für dich eine besondere Bedeutung?"
"Ich verstand sie zuerst auch nicht recht", erklärte die Kranke ruhig. "Aber ich las dann die Randbemerkung und schlug die Parallelstellen nach, das hat mir viel zum Verständnis geholfen."
"So viel Mühe habe ich mir noch nie um einen Vers gemacht", gab Käthe leicht errötend zu, "obgleich ich eine große Bibel mit Randbemerkungen habe."
"Ich finde, man gewinnt viel, wenn man eine Schriftstelle mit der anderen vergleicht", fuhr Anna fort. Käthe war einige Sekunden still. Sie hatte sehr darauf gehalten, täglich einige Abschnitte aus der Bibel zu lesen; aber Stellen miteinander zu vergleichen, auswendig zu lernen und innerlich zu verarbeiten - daran hatte sie nie gedacht. Beschämt fragte sie ihre Cousine leise: "Welche Erklärung hast du denn für diesen schwierigen Text gefunden?"
Ihre Hände faltend, wiederholte Anna die ganze Stelle, an welcher sich ihr Herz in stiller Freude erquickt hatte: "Denselben werde ich mir sehen, und meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Käthe", fuhr die Kranke fort, während ihr die Tränen in die Augen traten, "wenn du wüsstest, welche Seligkeit mir dieser Text den ganzen Morgen über gebracht hat und welchen balsamischen Trost, während ich so große Schmerzen litt! Ich befinde mich im Tal der Todesschatten. Bald wird es mit mir aus sein, ich weiß es; aber mein Erlöser lebt. Er kennt mich persönlich, nimmt sich meiner auch in diesen Stunden an, ich bin bei ihm kein Fremder. Während so viele meiner Bekannten und Freunde von früher jetzt meine Gesellschaft meiden, als wäre ich ihnen ein Fremder, hat auch mein jetziger, elender Zustand mich meinem Heiland und Erlöser doch nicht entfremdet. Er bleibt mir treu in allen Lagen des Lebens, selbst wenn mich alle Menschen verlassen. Ich kann alles verlieren, auch mein Leben; wenn ich nur bis zuletzt selbst glaube und bestimmt weiß, dass mein Erlöser lebt, dann wird er sich meiner an jenem herrlichen Tag der Auferstehung annehmen, als sei ich ihm kein Fremder. Dann werden meine jetzt so müden und trüben Augen im Verklärungsglanz erstrahlen und seine Schönheit, Herrlichkeit und Vollkommenheit bewundern. Dann wird für mich alles Erdenleid vergessen sein; nicht mehr als ein Fremdling im Leben werde ich mir vorkommen, sondern als Hausgenosse Gottes für alles Ewigkeit."
Anna schloss wieder die Augen, und große Tränen flossen über ihre bleichen Wangen. Sie hatte für ihre schwachen Kräfte zu lange gesprochen, aber ihre Worte waren nicht umsonst gewesen.
"Anna hat mehr Trost und Nutzen von einem Vers, nein, von drei Worten in der Bibel gehabt als ich von dem ganzen Buch", dachte Käthe. "Ich habe die ganze Heilige Schrift nur gelesen, sie aber hat sie erforscht. Bin ich nicht jemand gleich, der achtlos an kostbaren Perlen vorübereilt, ohne sie zu betrachten oder zu sammeln?"

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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