Vergiss nie, woher du kommst!
Dem Herzog Georg Wilhelm gefiel es nicht in seiner Heideresidenz, seitdem er die lächelnde Unbeschwertheit Italiens kennen gelernt hatte. Die Staatsgeschäfte langweilten ihn, die Menschen seines Landes hielt er für unbeholfen und düster, und deshalb lockte es ihn in jedem Jahr mächtig, wenn der Karneval die herrliche Lagunenstadt Venedig durchtollte.
Wieder einmal war er dem kalten Norden entflohen und weilte in Venedig. Er hatte eine liebenswürdige und schöne Dame kennen gelernt, die junge Gattin eines angesehenen, alten Kaufherrn. Darüber vergaß er sein Ländchen und seine Pflichten als Landesvater.
Eines Tages wollte er an einem festlichen Vergnügen teilnehmen. In froher, erwartungsvoller Stimmung ging er mit einem Freunde eine Straße entlang. Da trat ein in Lumpen gehüllter Knabe an ihn heran und bettelte:
"Habt Erbarmen, hoher Herr, im Namen der allergebenedeitesten Jungfrau Maria, bitte eine kleine Gabe!"
Georg Wilhelm musste lächeln, als er sah, wie die Lumpen an dem langen, dürren Jungen herunterhingen. In seiner übermütigen Laune warf er ihm einen Golddukaten in den Hut.
"Da, kauf dir was Schönes", sagte er.
Der kleine Bettler erschrak, als er das Goldstück sah, und hielt es dem Herzog hin: "Gnädiger Herr, nehmt Euer Geld zurück, das Geschenk ist für einen Bettler viel zu groß."
Der Herzog lachte vor Verwunderung. Schließlich sagte er: "Na, Junge, dann geh es wechseln und bring mir den Rest wieder."
Der Knabe sprang davon, während der Herzog mit seinem Begleiter weiterging, ohne länger an diesen kleinen Vorfall zu denken. Sicherlich wäre die Angelegenheit auch bedeutungslos geblieben, wenn der Bettlerknabe nicht das Goldstück tatsächlich gewechselt hätte. Er lief hinter dem wohltätigen, fremden Herrn her und holte ihn atemlos ein.
"Herr, das Geld!", keuchte er. "Nehmt Euer Geld, hoher Herr!"
"Dass es so etwas gibt!" Herzog Georg Wilhelm von Celle blieb stehen. "Du sollst dich nicht umsonst angestrengt haben. Behalte das Geld, ich schenke es dir für deine Ehrlichkeit."
Des Knaben Augen glühten vor Freude. Der Fürst beobachtete ihn dabei. Plötzlich kam ihm ein Einfall: "Ich könnte einen zuverlässigen, ehrlichen und treuen Diener hier in Venedig gebrauchen. Weißt du einen?"
Als der Junge verneinte, sagte er: "Wie ist es mit dir? Hast du keine Lust?"
Der Junge schüttelte traurig den Kopf: "Ich, Herr? Ich hab nichts gelernt, ich kann nichts, ich kann nur betteln."
"Das glaub ich nicht", entgegnete Georg Wilhelm. "Du gefällst mir. Schlag also ein, du wirst es gut haben und kannst mir manchen Dienst erweisen."
"Wenn Ihr denn meint, gnädiger Herr, dann will ich es gerne versuchen", antwortete der kleine Bettler.
"Das Wort soll gelten; du bist also jetzt mein Diener. Nun sag mir noch deinen Namen."
"Francesco Maria Capellini Stechinelli."
"So, und ich bin Herzog Georg Wilhelm von Celle."
Damit endete die seltsame Unterhaltung auf der Straße. Niemand von den beiden ahnte, welche entscheidenden Folgen diese zufällige Begegnung später einmal nach sich ziehen würde.
Francesco hatte einen großzügigen Herrn und Wohltäter gefunden. Zunächst kleidete der Herzog ihn vollständig ein und förderte den Knaben, der selbst einen Hang zur Sauberkeit verspürte und den Willen hatte, ein ordentlicher und tüchtiger Mann zu werden. Deshalb arbeitete er fleißig an sich.
Da geriet der Fürst durch seinen Leichtsinn in eine recht schwierige Lage. Er zog sich die Todfeindschaft eines einflussreichen Venetianers zu, der in seinem Hass alle Bedenken fallen ließ. Jetzt zeigte es sich, wie wertvoll der kleine Bettlerknabe für Georg Wilhelm war; denn auf seine Warnung hin konnte sich der Herzog noch rechtzeitig in Sicherheit bringen.
Herzog Georg Wilhelm von Celle, der Letzte seines Geschlechts, hatte nun keine Lust zu weiteren Abenteuern, und da er zudem drängende Briefe seiner Kanzlei erhalten hatte, kehrte er in sein Heideland und in seine Residenz Celle zurück.
Der ehemalige Bettlerknabe begleitete ihn. Man sah ihm seine Herkunft nicht mehr an. Er war nicht nur bescheiden, sondern auch gelehrig und fleißig, so dass der Herzog Freude an ihm hatte. Er ließ ihn unterrichten und ausbilden, schickte ihn auf die Universität und nahm ihn schließlich in herzoglichen Dienst, zunächst als Lakai, dann als Page und endlich als Berater und Organisator der fürstlichen Auslandsgeschäfte, wobei damals auch die über hundert anderen deutschen Fürstentümer zum Ausland gehörten.
Die Finanzen des Landes waren durch die vielen Auslandsreisen des Herzogs in Unordnung geraten, zumal die Beamten nicht nur dem Wohle des Staates gedient hatten. Francesco brachte sie wieder in Ordnung. Er hatte bei allen Unternehmungen eine ungewöhnlich glückliche Hand, so dass der Herzog ihn schließlich zum Generalpostmeister ernannte und ihm damit eine wichtige, aber auch recht undankbare Aufgabe zuwies. Stechinelli enttäuschte wiederum nicht. Bald hatte er das Postwesen geordnet, straff organisiert und in ein Gewinn bringendes Unternehmen umgeschaffen. Der Fürst brauchte es nicht zu bereuen, dass er sich des einstigen Bettlers angenommen hatte.
Längst hatte sich Stechinelli an Reichtum und Wohlleben gewöhnt. Er war in seiner Arbeit zuverlässig, dabei liebte er es, sich mit Schönheit und Glanz zu umgeben. Er ließ denn nicht nur in Celle, sondern auch in Landstädten und Dörfern Schlösser und Herrensitze bauen, an denen wir uns noch heute erfreuen können.
Den Höhepunkt seines Lebens und Erfolges erlebte er jedoch, als Kaiser Leopold ihn auf Vermittlung seines Herzogs in den Adelstand erhob und ihm den klingenden Namen Stechinelli, Freiherr von Wieckenberg verlieh. Die Kurfürstin Sophie von Hannover lernte ihn kennen und schrieb, dass er ein gesticktes Gewand, ganz in Silber und Gold gewirkt, getragen habe. Lieselotte von der Pfalz nannte ihn "einen guten Mann", und sogar der König von Frankreich fragte ihn als Sachverständigen um Rat und sandte ihm ein kostbares Geschenk als Zeichen des Dankes und der Verehrung.
Einmal schien es, als ob das schöne Verhältnis zwischen dem Landesherrn und seinem Generalpostmeister getrübt werden würde. Stechinelli gab in seinem prunkvollen Schloss, einem Meisterwerk norddeutschen Barocks mit italienischen Einflüssen, ein großes Fest. Er hatte nicht gespart, und da alle Höflinge wussten, dass er die vergnügtesten und verschwenderischsten Feste zu feiern verstand, kam der ganze Glanz der Residenz bei ihm zusammen. Georg Wilhelm gedachte, seinen Generalpostmeister dadurch zu ehren, dass er ebenfalls unerwartet beim Feste erschien.
Der ein wenig eitel gewordene Freiherr von Wieckenberg stolzierte gravitätisch in prächtiger Aufmachung und mit frisch gepuderter Allongeperücke durch die überladenen Räume, grüßte seine Gäste, plauderte artig mit den Damen, ermunterte die Jugend zum Tanz und setzte sich hin und wieder zum Roulett, das damals in keiner vornehmen Gesellschaft fehlen durfte.
Er strich soeben einen Gewinn ein, als ihm zugeflüstert wurde:
"Der Herzog kommt!" Der Generalpostmeister, der ein wenig mehr als sonst dem Wein seines Heimatlandes zugesprochen hatte, blieb sitzen.
"Soso", sagte er, "der wird uns schon finden."
Dann wandte er sich übermütig an seine Gäste, die ihn peinlich berührt anstarrten: "Bitte, meine Damen und Herren, spielen wir!"
In diesem Augenblick trat Georg Wilhelm durch die weit geöffnete Flügeltür. Die Gäste waren schon vorher in Ehrfurcht verstummt und verneigten sich nun noch tiefer als sonst.
Nur Francesco blieb kühl und begrüßte seinen hohen, gnädigen Herrn, als sei er seinesgleichen. Der Herzog ließ sich nichts anmerken, verließ aber schon bald enttäuscht wieder das Fest, von dem er sich vergeblich Freude versprochen hatte.
Am Nachmittag des nächsten Tages befahl er Stechinelli zu sich aufs Schloss. Francesco ließ sich sorgfältig ankleiden. Wie ein vollendeter Höfling trat er vor seinen Fürsten.
Der Herzog blieb sitzen und schaute nur flüchtig auf. "Wer bist du?", herrschte er ihn an.
"Francesco Maria Capellini Stechinelli, Freiherr von Wieckenberg, Euer Fürstlichen Hoheit Generalpostmeister", wurde zögernd und ein wenig unsicher geantwortet.
"Recht so, Freiherr von Wieckenberg", sagte der Herzog. Auf seinen Wink brachte ein Lakai ein sorgfältig verschnürtes Bündel und reichte es dem Generalpostmeister.
"Öffne es!", befahl Georg Wilhelm. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit sprach er Stechinelli wie einst in Venedig an.
Die Knoten lösten sich, und als Francesco die Hülle aufschlug, lagen seine alten, schmutzigen Lumpen vor ihm.
"Kennst du das noch?", fragte der Fürst. Da kniete der ehemalige Bettler beschämt nieder und bat um Verzeihung.
Der Herzog hob ihn auf und sprach: "Vergiss nie, woher du kommst, und wohin du wieder gehen kannst, mein Freund. Und bedenke, dass Bescheidenheit und Ehrerbietung dich besser kleiden als ein prächtiges Gewand."
Damit war der Vorfall für beide erledigt. Stechinelli hielt von nun an seinem Herrn dankbar und freudig die Treue, bis er im Jahre 1694 im Alter von 54 Jahren starb.
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