Unter dem Mikroskop

Ein Naturforscher prüfte mit seinem Mikroskop ein Moos und ließ es einen in der Nähe befindlichen alten Schäfer auch beschauen. "Wie prächtig!", rief dieser erstaunt aus, fügte aber mit einem Seufzer hinzu: "Und schon so viele Jahre lang schreite ich über diese Pflänzlein hin und merkte nichts von ihrer Schönheit." 
Ein gewöhnliches Blumenblatt unter einem starken Vergrößerungsglas betrachtet, zeigt das allerfeinste Farbenmuster, ein von Menschenhand gefertigtes seidenes Gewebe aber erscheint als ein rauhes, wirres Machwerk. Eine seiner Nähnadel ist ein wunderbares Erzeugnis der menschlichen Kunst; aber wenn man sie unter ein Mikroskop bringt. Sieht sie aus wie eine dicke Eisenstange, in der es schwarze Risse hat, und die spitze bricht grob und stumpf ab. Bringt man dagegen ein Gotteswerk unter das Mikroskop, den Stachel einer Biene, so sieht man eine braune, überall gleichmäßig glänzende Stange, und die spitze läuft so sein aus, dass man ihr Ende kaum genau erkennen kann. Oder betrachtet einige Schneeflocken. Welche Wunderwerke, gebildet aus feinen Einkristallen! So etwas Feines kann kein Mensch machen. Die feinste Laubsägearbeit ist dagegen grob und klotzig. Den kleinsten Punkt, den die Feder auf Papier macht, zeigt das scharfe Auge des Mikroskops als ganz verbogenen, den Kunst auf einem Insektenhügel als fehlerfreien Kreis.

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 1818
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