Über leichtfertige und lieblose Beurteilung
Ein Südafrikaner wurde eingeladen, in acht Minuten einen knappen Umriss der Lage in der Südafrikanischen Union zu geben. Man wollte die Gelegenheit benützen, aus ganz berufenem Munde etwas über die gefährlichen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Rassengruppen zu hören, war aber im Druck mit der Zeit, weil auch noch eine Reihe anderer Länder vertreten werden musste. Der Redner, ein ausgezeichneter Fachmann auf dem Gebiete der Rassenfragen und südafrikanischer Staatsbürger, begann seine Darstellung mit einer ganz boshaften Bemerkung. Er sagte:
"Der Grund, warum man mich gebeten hat, in acht Minuten die Wahrheit über die Lage in Südafrika zu sagen, liegt wohl darin, dass es so viele Ausländer gibt, die acht Minuten in unser Land kommen, um dann nachher der Welt in einem Buch die ganze Wahrheit zu erzählen."
Geht es uns nicht eigentlich allen so? Man braucht nicht nach Südafrika zu reisen, um auf die Not zu stoßen, die uns selber widerfährt und zu der wir leider auch selber so viel beitragen. Es ist die Not des voreiligen, raschen Urteils.
"Sie haben einen sonderbaren Geistlichen", sagte ein Besucher nach einer Predigt. "Die Botschaft war zwar gut, aber sein Gehabe war mir zuwider. Der Mann weiß sich nicht zu betragen!" - "Verzeihen Sie", sagte die Begleiterin. "Unser Pfarrer ist ein feiner Mensch. Wir lieben ihn alle. Leider ist er blind."
Es braucht nicht immer so ungeschickt zuzugehen wie in diesem Beispiel. Aber wir sind alle voreilig. Wir maßen uns alle mit unseren kurzen Maßstäben, mit unserem Mangel an Einfühlungsgabe ein zu rasches Urteil an. "Sie ist stolz!" - "Er ist oberflächlich!" - "Diese Leute leben über ihre Verhältnisse!" - "Das sind keine Christen!" - "Die Engländer verstehen uns nicht!" -"So sind halt die Deutschen!" Man kann diese Beispiele vermehren.
Ich denke an eine Evangelisationswoche, in der es Donnerstagabend wurde, bis der Kollege und ich den Augenblick von Gott geschenkt erhielten, von unseren Voreingenommenheiten, unseren "allgemeinen Urteilen" abzugehen und hinter dem äußeren Gehaben, hinter der "Person" die Persönlichkeit, den "Spieltisch" der ganzen Orgel des Herzens, die tiefen und die höhen Töne, die Vielfalt der Registratur zu erkennen. Fern davon, auf einmal den anderen in seiner Fülle zu begreifen, ging es uns doch beiden auf: "Es steckt mehr hinter ihm!", und, was noch wichtiger ist: "Ich habe doch verschiedene Handlungsweisen missdeutet. Ich kannte ihn nicht!"
"Hast du ihn schon einmal als Familienvater gesehen?" - "Weißt du, wie sich die Frau beträgt, wenn etwas im Hause schief geht?" Dann kennst du sie noch nicht. "Jedermann fällt auf meine Schwester herein. Und ich stehe in ihrem Schatten!", hörte ich in einem seelsorgerlichen Gespräch. Man konnte auf die Schwester hereinfallen, denn sie war gut; aber ihre Gefährtin hatte ebenfalls ein tiefes, reiches Innenleben, nur besaß sie weniger die Fähigkeit, sich auszudrücken.
Nun sind es immer noch zweierlei Dinge, ob ich mich aus einem Mangel an Einsicht über einen Menschen oder ein Land oder über gewisse Verhältnisse im Irrtum befinde und dabei den Mund halte oder ob ich mir anmaße, mit meinem unreifen Urteil in der Welt herum zu reisen und andere Leute dadurch irrezuführen. Wie ganz anders würde unsere Gemeinde zur Heimat werden, wenn wir einige Grundsätze anerkennen und ausüben würden. So etwa die Erkenntnis, dass unser Wissen Stückwerk ist, und wir deshalb nicht auftreten dürfen, als besäßen wir alle Weisheit und Erkenntnis - und ermangelten dafür, wie 1.Kor. 13 so treffend sagt, der Liebe.
Wenn wir mehr Demut und Bescheidenheit besäßen, wenn uns mehr Hochachtung vor dem Geheimnis und der Selbständigkeit des anderen Menschen eigen wäre, wenn wir erklären würden, dass unsere kurze und oberflächliche Bekanntschaft mit einer Sache noch lange nicht ausreicht, ein zuverlässiges Urteil zu sagen, dann wäre viel Lieblosigkeit aus der Welt geschafft, an der wir uns manchmal fahrlässig beteiligen.
Mein Vater hatte eine lustige Art, neugierige, voreilige Leute abzufertigen. Wenn ihm ein Zuschauer in seiner Schreinerarbeit ohne Sachkenntnis dreinzureden versuchte, ertrug er es eine kurze Zeit und konnte dann auf einmal die Säge niederlegen, aufblicken und mit Spitzbubenaugen fragen:
"Haben Sie eigentlich einmal bei einem Schreiner übernachtet, dass Sie das alles verstehen?"
Bevor wir uns als Christen leichtfertiger und daher liebloser Beurteilung von Menschen und Sachen schuldig machen, sollten wir uns von Gott die Liebe erbitten, mit der wir unseren Mangel erkennen können, und dann entweder schweigen oder uns selbst als nicht maßgebend bezeichnen, bis wir der Sache auf den Grund gegangen sind. Diese Haltung würde unser Verhältnis untereinander wesentlich verändern und dem Heiligen Geist mehr Raum lassen.
(Ferdinand Sigg, 1902-1965)
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