Sterben eines behinderten Mädchens
Paul Le Seur (1877-1963) berichtet in einer seiner Schriften, wie aus den Anstalten Hephata in Treysa der dortige Direktor von dem Sterben eines der schwächsten, armseligsten Kinder eine ebenso erstaunliche wie bewegende Geschichte erzählt:
"Etwa zwanzig Jahre lang wurde in unserer Anstalt ein Mädchen namens Käthe gepflegt. Es war von Geburt an geistesgestört und hatte nie ein Wort sprechen gelernt. Stumpf vegetierte Käthe dahin. Abwechselnd stierte sie bewegungslos stundenlang vor sich hin oder befand sich in zappelnder Bewegung. Sie aß und trank, sie schlief, stieß auch einmal einen Schrei aus. Andere Lebensregungen hatten wir an ihr in den langen Jahren nie wahrgenommen. An alles, was in ihrer Umgebung vor sich ging, schien sie nicht den geringsten Anteil zu nehmen. Auch körperlich wurde das Mädchen immer elender. Ein Bein musste ihr abgenommen werden, und das Siechtum wurde immer stärker. Schon längst wünschten wir, dass Gott dem armseligen Leben ein Ende mache.
Da rief mich eines Morgens plötzlich unser Doktor an und bat mich, mit ihm gleich einmal zu Käthe zu gehen, die im Sterben liege. Als wir in die Nähe des Sterbezimmers kamen, fragten wir uns, wer wohl gar Käthe in ihrem Zimmer die Sterbelieder dort singe. Als wir dann ins Zimmer traten, trauten wir unseren Augen und Ohren nicht. Die von Geburt an völlig verblödete Käthe, die nie ein Wort gesprochen hatte, sang sich selbst die Sterbelieder. Vor allen Dingen sang sie immer wieder: 'Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh...' Etwa eine halbe Stunde lang sang sie mit selig verklärtem Gesicht und ging dann sanft und still heim.
Nur in tiefster Bewegung konnten wir das Sterben dieses Mädchens miterleben.
Wie viele Fragen gab uns diese Sterbestunde auf! Käthe hatte also nur scheinbar an alledem, was in der Umgebung vor sich ging, nicht teilgenommen. Denn woher hatte sie Text und Melodie des Liedes richtig verstanden und wandte ihn in der entscheidenden Stunde ihres Lebens richtig an? Das war uns schon ein Wunder, dass die bis dahin völlig stumme Käthe plötzlich klar und deutlich Worte des Liedes wiedergeben konnte. Herr Dr. W. erklärte immer wieder: 'Medizinisch stehe ich vor einem Rätsel. Durch zahlreiche Hirnhautentzündungen sind derartige schlimme anatomische Veränderungen in der Hirnrinde eingetreten, dass es völlig unbegreiflich ist, wie das sterbende Mädchen plötzlich klar und deutlich mit Verständnis singen kann.
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