Sorglosigkeit und Bequemlichkeit führt zur Ausrottung

Eine Kolonie von Reihern wurde in den "angenehmsten" Verhältnissen gehalten. Sie erhielt Futter, soviel sie wollte. Feinde gab es nicht für sie, die Wärme in den Aufenthaltsräumlichkeiten war auf Wohlbehagen abgestimmt. Es herrschte also Freiheit von Angst um Futter, um Schutz vor der Witterung und vor Feinden. Es zeigte sich, dass diese Umstände zu einer Vernichtung der Reiherkolonien nach wenigen Generationen führte. Die zweite Generation hatte es nicht mehr gelernt, ihre Kinder zu pflegen. Und hätten die Großeltern, die ja die notvolle Situation der Freiheit in Wald und Feld noch kannten, nicht ein wenig geholfen, wäre schon da die Aufzucht unmöglich geworden. Die dritte Generation vegetierte eigentlich nur noch dahin und war unfähig zur Fortpflanzung. Die zweite Generation dagegen hatte in einer Art sexuellem Wildwuchs mit wechselndem Geschlechtspartner gelebt, einem Verhalten, das in der freien Wildbahn, wo bei diesen Tieren eheliche Treue herrschte, nicht zu finden war. - Eine gleich große Reiherkolonie in Wild-Verhältnissen entwickelte sich trotz (oder wegen) der Sorgen normal.
John B. Calhoun, ein Forscher im Dienste der amerikanischen Bundesgesundheitsbehörde, schuf eine ähnlich perfekte Welt für acht weiße Mäuse, die sich frei von jeder Furcht vermehren konnten. Dort stieg zunächst die Zahl der nachgeborenen Tiere auf 2200. "Der Spiegel" (Nr. 19/1971) dazu:
"Innerhalb von nur zwei Jahren zerbrachen unter dem Druck dieser Bevölkerungsexplosion alle sozialen Strukturen, sonst mäuseübliche Verhaltensweisen wurden deformiert. Für die nächsten Monate nun prophezeite der Wissenschaftler der einstigen Mäuse-Wohlstandsgesellschaft den endgültigen Untergang: Seit einem Jahr wurde in dem Nager-Asyl kein Nachwuchs mehr geboren; bis Anfang letzten Monats schrumpfte die Zahl der Bewohner auf 1600 . . . Schließlich, so vermerkte der Forscher, hing ein Schleier des Schweigens über der schlaffen Masse. Die Tiere hatten aufgehört, die Quietsch- und Pfeifsignale auszustoßen, mit denen sie sonst ihr Sozialgebaren untermalten. Calhoun: ,Die meisten Tiere wuchsen zu passiven Klumpen von Protoplasma heran, physisch gesund, aber sozial steril, eingefroren in einer Art kindhafter Trance.'"
Wenn man sich auch vor der kritiklosen Übertragung von Ergebnissen, die in Tierversuchen gewonnen wurden, auf den menschlichen Bereich hüten sollte, so liegt es doch nahe, und manche Erfahrungen bestätigen dies, dass wir in unserer gegenwärtigen Körperlichkeit ebenfalls nicht in der Lage sind, völlige Freiheit von Furcht und ständiges äußeres Wohlleben zu ertragen. Eine der Forderungen der UNO ist die nach "Freiheit von Furcht" für jeden Menschen. Würden wir die Realisierung überhaupt aushalten?
Es zeigt sich, dass Angst und Sorge zugleich Fluch und Segen für den Menschen darstellen. Und wenn es nach der Vertreibung aus dem Paradies (1. Mose 3,17 ff.) heißt: "Verflucht sei der Acker um deinetwillen (!); mit Mühsal sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen", so erkennen wir, dass die Arbeit, die Disteln, der Schweiß und die Mühsal, also alles, was wir mit dem Sammelnamen "Sorge" und "Belastung" bezeichnen, sowohl Fluch als auch Segen zum Inhalt haben. Ohne sie wären wir vergangen. Sie sind notwendig für unser Überleben. Angst und Stress im Übermaß sind schädlich, ihr Fehlen wäre jedoch tödlich.

Quelle: Mach ein Fenster dran, Heinz Schäfer, Beispiel 572
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