Sonja Tolstoi berichtet
Leo Tolstoi hatte gedacht, dass es gut wäre, wenn seine junge Verlobte seine Tagebücher lesen würde. Darin waren alle seine Liebesabenteuer festgehalten. Er wollte vor Sonja keine Geheimnisse haben und sah das auch als eine Art Bekenntnis an. Doch er hatte das Gegenteil erreicht: "Ich bin nicht die erste Frau, die er küsst", sagte sich seine Frau. Manche Eskapaden konnte sie verzeihen, andere nicht. Darunter war auch seine Affäre mit Axinia, einer Bäuerin, die noch auf ihrem Gut arbeitete. "Eines Tages werde ich mich vor Eifersucht umbringen", schrieb sie, als sie den dreijährigen Sohn der Bäuerin gesehen hatte, der ein Ebenbild ihres Mannes war. 1909, also Jahre danach: "Er findet Geschmack an dieser Bauerndirne, mit ihrem kräftigen, weiblichen Körper und ihren sonnengebräunten Beinen, sie zieht ihn jetzt noch genauso mächtig an wie in all den vergangenen Jahren..." Zu der Zeit aber war Axinia schon ein runzeliges, altes Weib von achtzig Jahren. Ein halbes Jahrhundert voller Eifersucht und Vergebungslosigkeit hatte sie so blind gemacht, dass sie damit alle Liebe zu ihrem Ehemann zerstört hatte.
Philip Yancey, Gnade ist nicht nur ein Wort, Brockhaus + Franz, 1999
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