Seht, welch ein Mensch!
Unter den Sioux-Indianern lebte einer, den man die "Rote Eule" nannte. Er nahm eine besondere Stellung unter seinen Volksgenossen ein, und was er sagte, galt ihnen als Orakel.
Niemals aber ließ er sich im Gotteshaus blicken, weil er bange war, er könnte dann unter seinen Volksgenossen an Ansehen verlieren.
Eines Tages aber verirrte er sich doch in das Schulhaus. Dort hatte man vor kurzem ein Bild aufgehängt, Jesus mit der Dornenkrone auf dem Haupt. Voll Schmerz und Liebe schienen die Augen des dornengekrönten Mannes den Indianer anzuschauen.
Wie gebannt blieb die "Rote Eule" stehen. Nachdem er das Bild eine lange Weile schweigend mit seinen Adleraugen betrachtet hatte, fragte er wie aus einem Irrtum erwachend: "Wer ist denn das? Warum ist er gebunden, warum ist sein Gesicht mit Blut befleckt? Und was bedeuten die Dornen auf seinem Haupte?"
Da erzählte ihm der Missionar die Geschichte von Jesus und von Seinem Sterben am Kreuz aus Liebe zu den Menschen. Ohne ein Wort darauf zu erwidern, verließ die "Rote Eule" gesenkten Hauptes das Schulhaus.
Wenige Tage später kam der Indianer wieder, setzte sich dem Bilde gegenüber nieder, betrachtete es lange und ging dann schweigend wieder fort. Und so machte er es von da an oft. Das stille, heilige, schmerzensvolle Angesicht des Heilands hatte es ihm angetan, er konnte nicht mehr los davon.
Wenige Monate später erhob sich ein frischer Grabhügel auf der Prärie, ein hölzernes Kreuz stand darauf. Wer lag dort begraben? Und was sollte das Kreuz bedeuten? Es war das Grab der "Roten Eule". Ehe er starb, rief er alle seine Freunde zusammen und sprach: "Die Geschichte von dem Mann am Kreuz ist wahr. Er hat auch "Rote Eule" geliebt und ist für ihn gestorben. Wenn ich tot bin, sollt ihr ein Kreuz auf mein Grab pflanzen, so dass alle Indianer es sehen, was im Herzen der "Roten Eule" war."
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