Schweig, So sind die Wege Gottes!

Ein alter Einsiedler lag vor der Tür seiner Hütte und dachte: Ich hab' doch lang genug gelebt in der Welt, aber dass darin alles mit rechten Dingen zugehe, und dass Gottes Wege allzeit gut und weise sein sollten, damit kann ich mich nicht apfinden.  Darüber schlief er ein und hatte einen Traum.
Eine Stimme, so träumte er, kam vom Himmel und rief: "Steh auf, Johannes, und geh hinaus in die Welt, ich will dir die Wege Gottes zeigen!" Er stand auf, nahm seinen Stab und schritt in den Wald hinein. Bald hatte er sich verirrt und fand keinen Ausweg und schrie ängstlich nach einem Menschen. Da trat ein unbekannter Mann zu ihm und sprach: "Geh mit mir, denn allein kannst du nicht durch den Wald finden."
Am Abend kamen sie an ein Haus, und der Hauswirt nahm sie freundlich auf, speiste und beherbergte sie aufs Beste, "denn", so sagte er, "ich feiere heute einen frohen Tag. Mein Feind hat sich mit mir versöhnt und mir zur Bekräftigung unserer Freundschaft einen goldenen Becher geschenkt." Am Morgen wünschten sie ihm einen Gotteslohn für seine Barmherzigkeit; der Einsiedler aber sah, wie sein Begleiter heimlich den goldenen Becher aus dem Schrank zog und in sein Bündel schob und ihn mitnahm, als sie weitergingen. Der Einsiedler wollte böse werden, der Begleiter aber sprach: "Schweig! So sind die Wege Gottes!"
Darauf kamen sie wieder in ein Haus; der Hauswirt aber war ein Geizhals, fluchte und schimpfte über die ungebetenen Gäste und tat ihnen allen Spott und alles Leid an. "Da müssen wir fort", sagte der Begleiter, "und den Staub von unseren Füßen schütteln." Ehe sie aber gingen, schenkte er dem Hauswirt, der nicht wusste, wie ihm geschah, den schönen, goldenen Becher. "Was machst du da?", fuhr der Einsiedler auf; der andere aber legte den Finger auf den Mund und sprach: "Schweig! so sind die Wege Gottes!"
Am Abend kamen sie wieder zu einem Mann, der war sehr gut, aber sehr traurig. Mit all seiner Arbeit, sagte er, könne er's doch nicht vorwärts bringen  -  das Unglück verfolge ihn, ein Stück ums andere von seinem Eigentum müsse er verkaufen, und jetzt habe er nichts mehr als seine baufällige Hütte mit ihren leeren Wänden. "Gott wird helfen", sagte der Begleiter; vor dem Weggehen aber ergriff er ein Licht und zündete ihm das Haus über dem Kopf an. "Halt!", schrie der Einsiedler und wollte ihm in die Arme fallen; der aber sprach: "Schweig! So sind die Wege Gottes!"
Am Abend des dritten Tages kamen sie zu einem Mann, der nahm sie gut auf, war aber sehr finster und in sich gekehrt. Nur mit seinem kleinen Söhnlein war er sehr freundlich, denn es war sein einziges Kind, und er hatte es sehr lieb. Dem Einsiedler gefiel das sehr wohl. Als sie am Morgen weggingen, sagte der Mann: "Ich kann euch nicht begleiten, mein Sohn wird euch den Weg zeigen bis an den Steg, der über das Wasser führt, aber gebt Acht auf das Kind, dass es keinen Schaden nimmt!"
"Gott wird's behüten", sagte der Begleiter und gab dem Mann die Hand. Als sie an den schmalen Steg gekommen waren, unter dem das Wasser brauste, wollte der Sohn wieder umkehren. Der Begleiter aber sagte: "Geh nur voran!" Darauf, als sie in die Mitte des Steges gekommen waren, fasste er das Kind im Genick, hob es hoch in die Höhe und schleuderte es hinab in den Strom.
Jetzt verging dem Einsiedler Hören und Sehen. "Du heuchlerischer Teufel!", schrie er, "Da will ich lieber im wilden Wald verschmachten oder von den reißenden Tieren mich verzehren lassen, als noch einen Schritt mit dir gehen. Das sind die Wege Gottes, die du mir zeigen willst? Da lügst du und sollst mit deiner Lüge in die Hölle fahren!"
Aber im Augenblick verwandelte sich der Begleiter in einen Engel, ein himmlischer Glanz umstrahlte ihn, und er sprach: "Höre, Johannes! Der Becher, den ich dem freundlichen Mann nahm, war vergiftet, der Geizhals aber wird sich zum Lohn seiner Sünden den Tod daraus trinken. Der arme, fleißige Mann wird sein Haus wieder aufbauen und unter der Asche einen Schatz finden, mit dem ihm von nun an aus seiner Not geholfen ist. Der Mann, dessen Kind ich in den Strom schleuderte, war ein schwerer Sünder, und das Kind, das er verzog, wäre einst ein Mörder geworden. Nun wird des Kindes Verlust des Vaters Herz zur Buße kehren, das Kind selbst aber ist wohl aufgehoben. Du konntest in die Weisheit und Gerechtigkeit der Wege Gottes dich nicht finden. Siehe! Nun hast du ein Stück davon gesehen. Bescheide dich in Zukunft!"
Damit entschwand der Engel. Der Einsiedler aber erwachte, ging in seine Hütte und war hinfort geheilt von allen seinen Zweifeln.

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 378
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