Richter und Freund zugleich

In Schottland lebten zwei Männer, die als Knaben zusammen aufgewachsen waren. Der eine, der ein treues Gottesleben führte, wurde Richter, der andere ein leichtsinniger Taugenichts. Es geschah, dass Letzterer als Schmuggler eines Tages von der Polizei gefasst wurde und schließlich vor seinem eigenen Jugend­freund auf der Anklagebank saß. In der Stadt war man in großer Spannung, wie der Richter sich in dieser peinlichen Lage verhalten werde. Die einen erwarteten große Milde, die anderen behaupteten, die Frommen seien immer doppelt strenge gegen Ungläubige.

Die Verhandlung fand statt; die Anklage wurde verlesen, die Zeugen verhört. Darauf verkündete der Richter mit würdevoller Ruhe das Urteil - es war das höchste Strafmaß, welches das Gesetz erlaubte - eine hohe Geldbuße oder 6 Monate Gefängnis. Es klang den Anwesenden ungemein hart. Der Richter aber ging auf den Angeklagten zu, und indem er ihm die nötige Summe einhändigte, um seine Strafe zu zahlen, sprach er in tiefer Rührung: "So lange ich auf dem Richter­stuhl sitze, muss ich Recht sprechen, wie es der unbeugsame Buch­stabe des Gesetzes verlangt, jetzt aber stehe ich vor dir als dein alter Kamerad. Ich zahle freudig deine Strafe - noch mehr - nimm hier meine Hand, lass dich von mir führen; ich will nach besten Kräften Sorge tragen, dass du ein anderer Mensch werdest und dein Leben noch gerettet werde.

Im Gefängnis wäre er wohl kaum ein besserer Mensch geworden. Aber ich glaube nicht, dass er in der Hoffnung, der Richter werde abermals und immer wieder die Strafe tragen, in sein altes Treiben zurückgesunken ist. Die Güte des Freundes hatte sein Herz gerührt. - Jetzt verstanden es die Leute, wie man gerecht sein kann und doch mitleidig, wie man Unrecht zu strafen und doch den Bestraften zu lieben vermag.

Das ist die wunderbare Ver­kündigung des Kreuzes auf Golgatha. Dort sehen wir Gottes Gerech­tigkeit und Gottes Liebe, dort ist "Christus einmal geopfert, um wegzunehmen vieler Sünden". "Siehe das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt." "Er macht Frieden." Man kann das nicht verbessern, man kann nichts hinzufügen. Er selbst, der sterbende Heiland, sprach aus: "Es ist vollbracht!"

Quelle: Neues und Altes
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