Rettung aus dem brennenden Haus

Nur die letzte Granate, die die russische Artillerie in das kleine Dorf Gridnewo schoss, richtete Schaden an. Sie schlug in das strohgedeckte Dach einer Banjehütte, fuhr mit Getöse durch die dürren, trockenen Holzsparren und schlug knapp hinter dem Häuschen in den angebauten Stall, der zur Zeit leerstand.
Im Augenblick hatte das Stroh Feuer gefangen, das sich schnell ausbreitete. Die Dorfbewohner kamen aus ihren Erdlöchern hervor, die sie sich zum Schutz gegen den Beschuss gebaut hatten, und schauten untätig zu, wie die Flammen gierig um sich fraßen.
"Nitschewo! (d. h. Macht nichts)", sagte der Starost zu einem deutschen Feldwebel, "Lass brennen!"
Plötzlich klang es wie Kindergeschrei aus dem brennenden Hause.
Der Feldwebel schaute den Starost an.
"Nitschewo", sagte der wieder, "zu spätt, nichts zu machen!"
In diesem Augenblick kam ein Obergefreiter  dazu. "Was zu spät?!", schrie er, setzte die Feldmütze fest auf und sprang zu der niedrigen Tür.
"Sind sie verrückt?", brüllte der Feldwebel hinterher, "Sie bleiben hier!"
Der Obergefreite schüttelte nur den Kopf. Schon hatte er die Hütte erreicht, die Tür aufgestoßen und war im Innern verschwunden. Die Flammen im Dach knisterten und knallten wie Gewehrkolben. Fast alle Dorfbewohner fanden sich und sprachen erregt durcheinander, ohne das Haus aus den Augen zu lassen.
Da huschte eine Gestalt durch die niedrige Tür. Der Obergefreite trug ein weinendes, vierjähriges Mädchen auf den Armen und legte es vor dem Starost nieder.
"Herr Feldwebel, drin ist noch eine verwundete Frau und ein Kindchen. Noch ein Mann, dann sind sie gerettet."
"Sollen doch die Russkis braten, wenn sie zu feige sind, sich selbst zu helfen", war die Antwort, als der Starost erneut die Schultern zuckte. Der rechte Teil des lang gestreckten Hauses war nun ganz von den Flammen erfasst. Ein Glück, dass kein Wind ging! So verzögerte sich wenigstens das Umgreifen des Brandes. Der Obergefreite sah mit Entsetzen die Unentschlossenheit der Leute. Da erblickte er einen Eimer mit Wasser, den eine Frau neben sich gestellt hatte. Den ergriff er, schüttete sich einen Teil des Inhalts über den Kopf und stürmte dann mit halbvollem Eimer wieder in das hell auflodernde Haus. 
"Ich befehle Ihnen, dass sie zurückbleiben!", rief der Feldwebel hinterher, aber schon war der Soldat in dem Inferno verschwunden. Die Spannung der Menschen draußen stieg von Sekunde zu Sekunde. Die Frauen jammerten, die Kinder starrten in die Flammen und die Männer bissen sich auf die Lippen.
Der rechte Teil des Hauses brannte lichterloh. Die Dachbalken fielen in sich zusammen und hingen an den Holzwänden herunter, so dass der untere Raum Feuer fing. Jetzt begannen sich auch die Balken des übrigen Dachteiles zu heben und zu strecken wie feurige Arme, es knallte scharf, wenn sie aus den Fugen platzten, und es war nur noch eine Sache von Augenblicken, dann würde alles zu einem brennenden, glühenden Haufen zusammenbrechen.
Der Feldwebel stand starr neben dem Starosten, bleich bis in die Lippen. Der Russe wischte sich über die Augen und murmelte:
"Guter Mann, schade." Und wie zur Beruhigung setzte er sein gleichmütiges "Nitschewo" hinzu.
Plötzlich schrie ein Mädchen auf und wies mit der Hand zum äußersten Teil des linken Flügels des Blockhauses, der noch am stärksten zu sein schien. Da sahen sie es ganz genau. Drinnen stand der Obergefreite am Fenster, jetzt schlug er es mit einem Knüppel ein, zerschmetterte es und zerbrach den Rahmen und winkte heftig den Leuten zu. 
Im Augenblick hatte der Feldwebel seinen Groll vergessen. Mit wenigen Sätzen sprang er hinzu und der Obergefreite legte ihm ein zappelndes Bündel in den Arm.
"Wasser", keuchte der Soldat. Schon pflanzte sich das Wort wie ein Befehl fort. Im Nu bildeten die Soldaten und die Männer des Dorfes eine Kette zum Brunnen und schütteten Eimer für Eimer durch die Fenster ins Innere.
Der Obergefreite hatte sich einen Eimer reichen lassen, dann drang er noch einmal in die Stube, und wenige Sekunden später schob er so behutsam wie möglich die Frau durch das enge Fenster. Draußen streckten sich ihr hilfreiche Arme entgegen. Der Soldat sprang ins Freie und stürzte ermattet und mit versengter Uniform zu Boden. Der Feldwebel ergriff ihn und schleppte ihn zum Brunnen. Wenig später brach das Gebälk prasselnd in sich zusammen. 
Nun kam Bewegung in die Leute. Weinend und jubelnd sorgten sie für die Geretteten. Die Frauen brachen ihre verborgenen Kisten auf und schleppten für die Frau Bekleidung herbei. Sie plünderten sogar ihre mageren Vorräte an Nahrung, und der Starost  versprach, dass an die Stelle des niedergebrannten Hauses nach dem Krieg in Gemeinschaftsarbeit ein neues gebaut werden würde.
Dankbar und bewundernd  aber starrten sie zu dem fremden deutschen Soldaten hinüber. Der bückte sich über die geretteten Kinder, die ihn aus schmutzigen Gesichtern anlachten, und strich mit der versengten Hand über ihre dunklen Haare.
"Ich habe auch zwei Kinder in Deutschland", sagte er und zeigte mit der Hand ihre Größe an. Seine Stimme klang müde und gütig. "Gott segne euch kleinen Dinger."
Die Dorfbewohner, die ihn umdrängten, nickten dazu, als hätten sie seine Worte verstanden. 
"Wie konnten sie so leichtsinnig sein?", sagte der Feldwebel, "Gegen meinen ausdrücklichen Befehl!"
Der Obergefreite erhob sich und stand vor seinem Vorgesetzten, als er schlicht antwortete:
"Kennen Herr Feldwebel das Wort: Liebet eure Feinde!? Um wieviel mehr solche Menschen, um deren Vertrauen wir ringen sollten!"
Eine Weile blieb es still zwischen den beiden. Dann sprach der Feldwebel bedächtig: "Sie haben Recht. Wenn alle Menschen so dächten, dann gäbe es keinen Krieg zwischen den Völkern und keinen Mord an Wehrlosen, dann wären alle Menschen Brüder und Schwestern."
"Brüder und Schwestern in Gott", fügte der Soldat leise hinzu, und alle Soldaten und alle Bewohner des Dorfes schauten ihn ehrfürchtig an wie einen Sendboten der anderen Welt.

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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