Reinigende Wirkung des Bibel-Lesens

Am Rande der Wüste lebte vor langer Zeit ein Eremit. Ihn besuchte eines Tages, ein junger Mann, der etwas auf dem Herzen hatte. »Ich lese so viele heilige Texte«, sagte er, »ich studiere kluge Bücher und vertiefe mich in die Schönheit all der Worte. Ich möchte sie festhalten und als Widerschein der ewigen Wahrheit in mir bewahren. Aber es gelingt mir nicht, ich vergesse das meiste. Ist nicht die mühevolle Arbeit des Lesens ganz vergeblich?« Der Eremit hörte ihm gut zu. Dann sagte er: »Nimm diesen Bienenkorb und hole mir Wasser aus dem Brunnen, den du hinter der Hütte siehst.« - »Hat er meine Frage nicht verstanden?«, sagte sich der Jüngling, »hat er mich überhaupt nicht gehört?« Widerwillig nahm er den von Schmutz verkrusteten Korb und ging zum Brunnen. Als er zurückkehrte, war das Wasser längst herausgerieselt. »Geh noch einmal«, sagte der Alte. Der junge Mann folgte. Ein drittes und viertes Mal, ein neuntes Mal musste er gehen. »Er prüft meinen Gehorsam«, sagte er zu sich, »dann wird er meine Frage beantworten.« Immer wieder füllte er Wasser in den Korb, immer wieder floß es zu Boden. Dann sagte der Alte: »Setze den Korb ab, und sieh ihn an.« - »Er ist ganz blank.« - »So geht es dir mit den Worten, die du liest und bedenkst. Du kannst sie nicht festhalten, sie gehen durch dich hindurch, und du hältst die Mühe für vergeblich. Aber ohne dass du es bemerkst, klären sie deine Gedanken und machen das Herz rein.« 
(Rosemarie Harbert)

Quelle: Wie in einem Spiegel, Heinz Schäfer, Beispiel 1536
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