Reicher Leute arme Kinder

In einer Gesellschaft wurde davon geredet, daß oft reicher Leute Kinder verarmten, und war fast nicht ein einiger da, der nicht ein Exempel solchen Falls hätte angemerkt und beibringen können, und bei Untersuchung der Ursache wollten etliche, es käme daher, daß reicher Leute Kinder mehr zur Ueppigkeit, als zur Arbeit, mehr zu verzehren, als zu ernähren, durch der Eltern törichte Liebe von Jugend auf gewöhnt und also keine Haushalter wären. Andere vermeinten, weil selten ein großer Reichthum ohne anderer Leute Schaden, ohne Thränen der Wittwen, ohne Schweiß der Armen, und mit einem Wort ohne Ungerechtigkeit gehäuft würde, so klebe der Fluch Gottes an solchem Gut und verzehre es. Gotthold ließ dieses ihm nicht zuwider sein, wohl wissend, daß in dem einen oder andern Fall solch Bedenken stattfinden könnte, hielt aber dafür, daß Gott hierin den Kindern eine verborgene Wohlthat erzeige, indem er ihnen die Schlüssel zu allerhand Sündenthüren, die großen Güter meine ich, aus den Händen nehme; denn da sie in aller Dinge Ueberfluß und Eigenwillen erzogen, von keinem Kreuz gewußt, auch anderer Beschwerde und Elend nicht zu Herzen genommen, und, wenn sie in solchem Zustand bleiben sollten, sich um den Himmel wenig würden bekümmert haben, so läßt ihnen Gott die zeitlichen Güter zerrinnen, auf daß sie Ursache haben, das Irdische zu verachten und nach dem Himmlischen desto begieriger zu trachten. Mein Gott! würdige meine Kinder deiner beharrlichen Gnade, so sind sie reich genug, auch mitten in der Armuth.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
© Alle Rechte vorbehalten