Reaktion auf Unvorhergesehenes offenbart den Charakter

Als wiedergeborene Menschen entdecken wir auf einmal, dass wir nicht nur sündhaft handeln, sondern auch sündhaft sind. Uns packt die Unruhe nicht nur über unser Tun, sondern auch über unser Sein. Das mag schwierig klingen. Darum will ich versuchen, es an meinem eigenen Fall zu zeigen.
Wenn ich abends mein Gebet sprechen will und versuche, die Sünden des Tages zusammenzuzählen, dann habe ich in neun von zehn Fällen irgendeine Sünde gegen die Liebe begangen. Ich war verdrießlich oder zänkisch, ironisch oder barsch und aufbrausend. Die Entschuldigung, die ich dann gleich zur Hand habe, lautet, dass die Herausforderung zu unerwartet und plötzlich kam. Ich hatte keine Zeit, mich zu sammeln und darauf einzustellen.
Nun mag das in besonderen Fällen ein mildernder Umstand sein. Es wäre sicherlich schlimmer, wenn ich überlegt und mit Vorbedacht gehandelt hätte. Auf der anderen Seite zeigt unsere Reaktion auf etwas Unvorhergesehenes oft viel deutlicher, was für einen Charakter wir wirklich haben. Was uns herausrutscht, bevor wir unsere Maske aufsetzen konnten, ist das nicht am ehrlichsten?
Sind Ratten im Keller, bekommt man sie am besten zu sehen, wenn man ihn plötzlich betritt. Die Ratten sind auch sonst im Keller. Durch mein plötzliches Eintreten hindere ich sie lediglich daran, sich zu verstecken. Genauso werde ich nicht dadurch zu einem unbeherrschten Menschen, dass mich jemand plötzlich reizt. Mein Verhalten beweist mir nur, was für ein unbeherrschter Mensch ich letztlich bin. Die Ratten sind ständig im Keller, aber wenn man beim Eintreten tüchtig lärmt, verschwinden sie, bevor man das Licht angeknipst hat.

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1259
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