Pastor Kemner und die sterbende Furie
Als Hilfsgeistlicher in Gifhorn hatte man mich wiederholt gebeten, eine gottlose Frau, die aus der Kirche ausgetreten war, ein Luderleben gelebt hatte und nun auf dem Sterbebett lag, zu besuchen. Ich schob den zunächst unliebsamen Besuch immer wieder auf. Aber Gemeinschaftsleute baten mich immer wieder. Schließlich nahm ich mir ein Herz und ging hin, mehr widerwillig als vollmächtig. Die Frau, zunächst über den Besuch erstaunt, fragte mich nach einigen belanglosen Worten, wer ich denn sei. Als ich ihr meinen Beruf nannte, verwandelte sie sich in eine Furie und brüllte: "Hinaus, hinaus!" Erschrocken ging ich und dachte:Das erste und das letzte Mal. Als ich den Gemeinschaftsleuten das erzählte, sagte der Leiter: "Ich werde beten, dass Sie erfüllen, was Jesus sagt: ,Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel' (Matth. 5,44). Hat Jesus nicht geboten, dass wir lieben sollen, wie er uns geliebt hat?" Diese Frage ließ mir keine Ruhe. Ich ging zum Gärtner und kaufte einen Strauß roter Rosen, sprach mir gut zu und ging zur Sterbenden. Ich öffnete betend die Tür, ohne einzutreten und hielt den Rosenstrauß durch den Türspalt. Ich fragte, ob ich ihr diese Rosen bringen dürfe, und versprach ihr gleichzeitig, nichts von Gott und Jesus Christus zu sagen. Nach einem Augenblick der Stille sagte sie: "Dann kommen Sie bitte herein."
Wir sprachen über all das, worüber man bei belanglosen Krankenbesuchen spricht. Es wurde menschliche Nähe geschenkt, und plötzlich fragte sie: "Warum sind Sie eigentlich Pfarrer geworden?" - "Das kann ich Ihnen nur sagen, wenn ich mein Versprechen breche." - "Tun Sie das." Als ich ihr betend von meiner Begegnung mit Jesus Christus berichtete, fing sie plötzlich herzzerbrechend an zu weinen. Das große Herzeleid über der Sünden Last war geschenkt. Sie kam in der gleichen Stunde zum lebendigen Glauben.
Bei meinem letzten Besuch sagte sie: "Wenn Gott mir nicht den Krebs geschickt hätte und Ihnen nicht den Mut, den Widerstand zu durchbrechen, hätte ich Jesus nicht gefunden." Sie wählte als Beerdigungstext das Wort aus dem Johannesbrief "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat" (1. Joh. 5,4).
(Heinrich Kemner)
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