Nur wer selbstvergessen ist, findet den Frieden Gottes
Ich erinnere mich an eine Gesprächsrunde, in der wir über die menschlichen Lebensalter sprachen. Einer aus diesem Kreis erwähnte dabei eine ältere Frau seines Bekanntenkreises und sagte von ihr: "Sie hat es gut; sie braucht für niemanden mehr zu sorgen und kann ganz ihren Interessen leben." Ich war darauf so keck, die Frage zu stellen: "Ist diese Dame nicht vielleicht etwas wunderlich? Ist sie eigentlich glücklich dabei? Ist es nicht schrecklich, für niemanden mehr sorgen zu dürfen?" Und die Antwort lautete dann: "Es ist tatsächlich so: Sie fühlt sich gar nicht wohl; sie hat hundert Wehwehchen, und der Arzt sagt, es sei psychisch bedingt." Sie kreiste also um sich selbst, und ihr Leiden war gerade die Sinnlosigkeit ihrer Existenz. Selbst das Grübeln und Sinnieren über den Grund dessen, was sie da in immer neuen Gestalten bedrückte, konnte den Bannkreis dieser Zirkelbewegung nicht sprengen, sondern riss sie nur noch tiefer in den Strudel hinein. Die Lösung ihrer Lebensfrage hätte dort gelegen, wo es ihr gelungen wäre, "selbstvergessen" zu sein.
"Der lebt am allerbesten", sagt Luther hierzu einmal, "der sich nicht selbst lebt; und der lebt am allerärgsten, der sich selbst lebt." Nur wer selbstvergessen ist, findet den Frieden Gottes und ist dann im Sinn seiner höheren Gedanken auch geborgen. Ich kann Gott eben nur dort erreichen, wo er für mich dasein will: In meinem Mitmenschen, dem ich selbstvergessen helfe, für den ich da bin und den ich liebe. Die Selbstaufopferung ist das beste Heilmittel gegen Neurosen und Depressionen. So einfach scheinen die Rezepte zu sein, wenn es um die letzten Lebensfragen geht.
(Helmut Thielicke, 1908-1986)
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