Nur ein Kind?

Vor einiger Zeit kam ein mir nahe stehender Pfarrer zu mir und bat mich, einem zurückgebliebenen Mädchen Nachhilfe zu geben, sonst könne er das Kind nicht konfirmieren. Er gab mir auch die Wohnung desselben an. Als ich dorthin kam, erfuhr ich, dass das Mädchen nicht das Kind des Hauses, sondern schon als Dienstmädchen in Stellung sei. Das Haus war ein Wirtshaus. Ich erzählte der Frau, welchen Auftrag ich habe. "Ei was, was hat der Herr Pfarrer gesagt? Er will unser Mariechen nicht konfirmieren, weil sie zu dumm sei? Ich will Ihnen sagen, was unser Mariechen ist. Sie ist ein Engel. Sie ist der Segen, der mit ihr in unser Haus eingezogen. Ehe sie bei uns war, naschten und stahlen unsere beiden andern Mägde, und ich musste alles unter Verschluss halten. Seit dieses Kind in unserem Hause ist, wurde alles anders. Als sie am ersten Tag an unserem Tisch ihre Händchen faltete, lachten und spöttelten die beiden andern. Aber das Kind ließ sich nicht irre machen. Sie war die Zuvorkommenheit und Dienstbereitschaft allen gegenüber in Person. Die andern konnten sie zu keiner Unwahrheit bringen. Wenn sie etwas Unredliches bei ihnen sah, bat sie, sie möchten so etwas nicht tun. Das ging so eine Weile, und die älteren Mägde bekamen einen Respekt vor dem treuen Kind. Sie spotteten nicht mehr über sein Gebet. Eines Mittags sagte die älteste Magd: 'Mariechen, bete doch laut auch für uns.' So sollte sie auch später das Abendgebet für die andern sprechen, ehe sie zu Bett gingen. Stehlen, Naschen und Leichtsinn hörten auf. Das alles habe ich dem Kind zu verdanken. Und der Pfarrer will unser Mariechen nicht konfirmieren?"

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 205
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