Nur die eigenen Kinder werden gezüchtigt

Ich ging durch eine Straße, an der eine ältere, nervenkranke Frau im Obergeschoß eines Hauses wohnte. Meist hielt sie die Fensterläden geschlossen. Nur wenn sie einmal stark erregt war, stieß sie die Läden auf und schalt mit kreischender Stimme durchs Fenster. Nun sah ich einmal schon von weitem vier Jungen von der Straße aus Steine gegen die Fensterläden hinaufwerfen, um wieder den Ausbruch der armen Frau auszulösen. Ich beschleunigte meine Schritte, um bald bei den Jungen zu sein und ihnen zu wehren. Doch bevor ich dort ankam, war plötzlich ein jüngerer Mann da. Er gab zwei von den Jungen kräftige Ohrfeigen; die anderen beiden schickte er weg. Als ich dann da war, fragte ich ihn, auf die beiden ersten Jungen zeigend, die mit verdutzten Gesichtern dastanden: »Warum denn nur die?« Der Mann antwortete ärgerlich: »Das sind die meinen.« Da habe ich noch besser verstehen gelernt, was es heißt: »Gott erzieht uns als seine Kinder.« Der Welt lässt er noch vieles ungestraft durchgehen. Bei seinen Kindern nimmt er's genau. Ein alter Christ sagte: »Dass man den Heiligen Geist hat, merkt man nicht zuletzt daran, dass man von ihm gelegentlich eine kräftige Ohrfeige bekommt. Dass Gott an mir gelegen ist, dass er mich liebhat, dass ich seinen Geist habe und sein Kind bin, merke ich an nichts so deutlich als daran, dass er mir nichts mehr durchgehen lässt, je länger, je weniger.«
(Fritz Grünzweig, 1914-1989)

Quelle: Wie in einem Spiegel, Heinz Schäfer, Beispiel 1697
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