Niemand kam
Da starb in einer Großstadt eine alte Frau. Sie hatte ein Tagebuch hinterlassen, ein kleines Tagebuch. Tag um Tag hatte sie in ihren letzten Lebensjahren eine Eintragung gemacht. Aber es waren immer nur zwei inhaltsschwere Worte, die sich monoton wiederholten und die aussahen wie die Strafarbeit eines Schülers, der einen Satz fünfzigmal abschreiben muss. Da stand es bei jedem Datum: "Niemand kam." Immer nur diese beiden Worte: "Niemand kam."
Es ist nicht bekannt, was hinter dieser Tragödie der Einsamkeit stand. Wahrscheinlich waren es nicht nur Bequemlichkeit, Ichsucht und Gedankenlosigkeit ihrer Mitmenschen, die die Greisin in diese bedauernswerte Lage gebracht hatten. Wahrscheinlich machte sie selbst es den anderen nicht leicht, sich auf ein Zusammensein mit ihr zu freuen. Vielleicht war ihr Denken so ichbezogen, dass sie mehr darauf aus war, von anderen etwas zu erwarten, als sich selbst zu schenken. Und diese Erwartenshaltung stößt andere ab und verbittert einen Menschen selbst. Aber ob nun sie selbst oder ihre Umwelt mehr Schuld an dieser trostlosen Einsamkeit hatte, eins weiß ich: Wäre das Leben dieser Frau in Jesus Christus geborgen gewesen, dann hätte sie diese Worte "Niemand kam" nicht jahrelang tagtäglich schreiben müssen.
Jünger Jesu sind Leute, die eine überwältigende Erfahrung gemacht haben: Jesus Christus hat stellvertretend für sie am Kreuz die letzte, grässlichste Einsamkeit durchlitten, als er herausrufen musste: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Alle Einsamkeit des Menschen wurzelt letztlich in seiner Geschiedenheit von Gott, wurzelt in seiner Sünde. Nur am Kreuz sind Sünde und Einsamkeit überwunden. Und wer mit Jesus Verbindung hat, der hat den auf seiner Seite, der seinen Jüngern zugesagt hat: "Ich bin alle Tage bei euch bis an das Ende der Welt." (Walter Lohrmann)
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