Nicht ungläubig, sondern unwissend

Ein Professor der Theologie erzählt:

Ich befand mich auf Reisen; mir gegenüber im Bahnwagen saß eine Dame, die, wie es schien, den besseren Ständen angehörte. Ich kam in ein Gespräch mit ihr. Das Gespräch kam endlich auf Religion und Glauben. "Entschuldigen Sie", warf gleich die junge Dame ein, "darüber denke ich wohl anders als Sie, mein Herr; ich bin nämlich ungläubig." - "Dann will ich Ihnen durch mein Gespräch nicht lästig fallen", sagte ich beschwichtigend, "doch wollen Sie mir die Frage erlauben, wie es kam, dass Sie ungläubig wurden? Als Frau von Urteil und Bildung lasen Sie gewiss späterhin wohl einmal ein Buch über den christlichen Glauben." Ich nannte ihr zwei Bücher: "Lasen Sie diese Bücher vielleicht?" - "Nein, ich kenne die Bücher nicht." - "Oder lasen Sie irgendein anderes Buch dieser Art?" - "Nein, ich erinnere mich nicht." - "Aber", fuhr ich fort, "den Katechismus, den Sie in der Schule lernten, werden Sie doch später das eine - oder das anderemal zur Hand genommen haben?" - "Was denken Sie, mein Herr", lautete die etwas unwillige Antwort, "wie sollte ich in meinem Stande mit solchen Dingen mich befassen?" - "Nun, verehrteste Frau", sagte ich gelassen, "dann entschuldigen Sie ein freies, offenes Wort; dann müssten Sie eben nicht sagen: Ich bin ungläubig, sondern: unwissend."

Quelle: Neues und Altes
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