Nächstenliebe im Gerichtssaal

Verhandlung vor einem Berliner Arbeitsgericht. Der klagende Arbeiter sagt aus, er habe einen Stundenlohn von 1.45 DM erhalten; der Vertreter der Firma versichert demgegenüber mit größter Entschiedenheit, der Arbeiter habe von der Firma nur einen Stundenlohn von 1.17 DM erhalten. Man lädt zum nächsten Termin den Arbeiter als Zeugen, der für die Verteilung der Löhne verantwortlich war. Es kommt zu folgendem Zwiegespräch: Vorsitzender: "Was haben sie dem Kläger ausgezahlt?" - Zeuge: "Für die Stunde 1.45 DM." - Vorsitzender:
"Trotzdem die Geschäftsleitung nur 1.17 DM. für ihn angewiesen hatte?" 
Zeuge: "Jawohl. Ich gab ihm den Zuschuss von meinem eigenen Lohn. L. wusste es nicht." - Vorsitzender: "Warum taten sie das?" 
Zeuge: "Der junge Mann war der einzige von seinen zahlreichen Angehörigen, der überhaupt etwas verdiente. Da wollte ich ihn heimlich unterstützen. Seit jemand anders die Verteilung der Löhne übertragen wurde, fiel mein Zuschuss weg." 
Der Richter ist einen Augenblick ganz still. So etwas erlebt man nicht alle Tage. Dann: "Der Kläger macht aber jetzt in seiner Unkenntnis einen nachträglichen Anspruch geltend." 
Zeuge: "Ich werde ihm das Geld von dem Lohn, der mir zur Verfügung steht, geben."

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 1806
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