Meine Schafe hören meine Stimme

Es gibt meines Wissens kein Land, das sich als Wappen ein Lamm oder ein Schaf gewählt hat. Man drückt die völkische Vision lieber in Bildern eines Raubtieres wie Löwe, Adler oder dergleichen aus. Ein Schaf hingegen ist hilflos und unendlich abhängig vom Hirten.
Als ich noch als Gutsinspektor in Pommern im Sattel saß, hatten wir eine große Schafherde; sie war so groß, dass nur der alte Schäfer Faklam die genaue Zahl wusste. Er trug immer dieselbe alte, abgetragene Kleidung und denselben Schlapphut. In der Kleidung unterschied ich mich zweifellos sehr von ihm. Reitanzug, Stiefel mit Sporen, das stärkte mein Selbstbewusstsein; doch das alles machte keinen Eindruck auf die Schafe.
Oft habe ich versucht, mich bei der Schafherde anzubiedern, ich habe sie gelockt, ich habe versucht, die Kleinen auf den Arm zu nehmen, aber was ich auch tat, ich blieb ihnen immer der Fremde. Wenn ich den Stall betrat, drehten sich alle um und würdigten mich nicht eines Blickes. Wenn aber Faklam den Stall betrat, gab es genau die umgekehrte Bewegung. Die Lämmer sprangen ihm bis zu den Schultern, und die Schafmütter waren außer sich vor Freude. Auf meine Stimme reagierten sie nicht, aber das Wort des Hirten wirkte Wunder. Als ich ihn einmal fragte, ob ihm jedes Tier bekannt sei, sagte er: »Jedes mit Namen.«
Eine Schafherde erinnert mich immer an das Geheimnis göttlicher Führung. Jesus sagt: »Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, und niemand kann sie aus meiner Hand reißen.« Ist das nicht beglückend, dass Jesus jedes seiner Schäflein kennt? Dass wir ihm alles sagen dürfen, was uns quält und drückt? Er hat nicht gesagt: »Ich bin ein guter Hirte«; er hat sich absolut gesetzt: »Ich bin der gute Hirte.« Er ist auch der einzige, der ein Recht auf die Herde hat. Er hat sie mit seinem Blut erkauft und sie rückversichert für alle Lagen in der Kraft seiner Auferstehung.
(Heinrich Kemner)

Quelle: Wie in einem Spiegel, Heinz Schäfer, Beispiel 1781
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