Mathilda Wredes Vertrauen in einen Verbrechen

Von Mathilda Wrede, genannt "der Engel der Gefangenen", wird erzählt:
Einmal musste sie nach einem entlegenen Postamt, um einen größeren Geldbetrag abzusenden. Ein baumlanger Mensch von finsterem, nicht sehr vertrauenerweckendem Äußern kutschierte. Der Weg führte durch tiefen Wald. Da fragte der Mann: "Ist es wahr, dass Sie einen Geldbrief mit viel Geld darin bei sich haben?"
"Jawohl, er muss abgeschickt werden."
"Dann ist es doch sonderbar, dass Sie sich getrauen, ganz allein mit mir durch den Wald zu fahren. Sie wissen doch, was für ein Bandit ich gewesen bin. Haben Sie gar keine Angst?"
"Nein, nicht die geringste. Denn sehen Sie, der Mann, der das tat, war ein sehr schlechter Mensch; aber das ist er jetzt nicht mehr. Jetzt ist er ein anderer geworden, und ich kann mich auf ihn verlassen."
Tiefes Schweigen. Aber plötzlich wurde die Stille durch lautes Schluchzen unterbrochen. "Ist es wirklich wahr, dass Sie mir vertrauen?" Als Mathilda bejahte, murmelte er vor sich hin: "Sie vertraut mir, sie vertraut mir wirklich!  -  Ja", sagte er zum Schluss, "dann soll Gott mir helfen, ein besserer Mensch zu werden, denn jetzt will ich es selbst."

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 425
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