Mathilda Wrede und eine Zigeunerin
Es klingelte, und ihrer Gewohnheit gemäß öffnete Mathilda Wrede, die finnische Baronin, die mit ihrem Ehrennamen "Der Engel der Gefangenen" bekannt ist, selbst die Tür. Vor ihr stand eine junge Zigeunerin.
"Guten Tag! Was wünschen Sie?", fragte Mathilda Wrede.
"Ich kann wahrsagen", war die Antwort. "Darf ich Ihnen wahrsagen?"
"Sehr gern. Sie kommen zur rechten Zeit. Treten Sie ein. Die Kaffeekanne steht auf dem Tisch, und wir werden es sehr gemütlich haben."
Als sie vor ihren Kaffeetassen saßen, sagte Mathilda Wrede: "Sie kommen, um mir wahrzusagen, und das sollen Sie auch tun dürfen. Aber vorher will ich Ihnen wahrsagen. Denn auch ich habe eine Gabe in dieser Richtung."
Damit nahm sie die Hand der Zigeunerin in die ihre, sah ihr gerade in die Augen und sagte: "Ich sehe, dass Sie dazu geschaffen sind, ein recht guter und tüchtiger Mensch zu werden, mit vielen Anlagen zum Guten. Aber Sie sind auf dem Wege, Ihr Leben zu zerstören. Um Geld zu bekommen, gehen Sie herum und wahrsagen, führen die Leute an und stehlen, lassen die Leute glauben, dass Sie wissen, was sich zugetragen hat und was später geschehen wird. Sie sind oft unzufrieden mit sich selbst und leben in steter Angst, ertappt zu werden. Ist das nicht so?"
Ein sehr leises Ja war die Antwort. Mathilda Wredes Mitleid erwachte: "Haben Sie schon von Gott reden hören?"
Keine Antwort, nur ein fragender Blick. Da fing Mathilda Wrede an, mit dem jungen Mädchen über die Bedeutung unseres irdischen Lebens zu sprechen und vom Vater, der jede Menschenseele leiten will und kann. Als die Zigeunerin ging, wollte sie Mathilda Wrede nicht mehr wahrsagen.
© Alle Rechte vorbehalten