Macht einer Persönlichkeit

Der Postkutsche, die zwischen den beiden südenglischen Städten Exeter und St. Ives verkehrte, war in einer kleinen Landstadt hart an der Grenze von Cornwall ein Seeoffizier entstiegen, der trotz seiner Jugend bereits ein bedeutsames Amt innehatte. Es sei dahingestellt, ob er es seiner Tüchtigkeit oder seiner Herkunft verdankte, denn er stammte aus einem alten Adelsgeschlecht der Cambridger Gegend. Jetzt befand er sich auf dem Wege nach St. Ives, einer aufstrebenden Handels- und Hafenstadt am westlichen Zipfel der Grafschaft Cornwall, die dort wie eine Zunge weit in den Atlantischen Ozean vorstößt.
Dies geschah um das Jahr 1850. Damals war auch in England das Eisenbahnnetz noch recht weitmaschig, so dass man ohne Postkutschen nicht auskam, ja, eigentlich es gab nur zwischen den wichtigsten Städten des Inselreiches Bahnverbindungen.
Die Fahrt auf den staubigen Landstraßen des englischen Südens bot wenig Abwechslung. An diesem Augusttage brannte die Sonne so nachhaltig auf das Dach der Postkutsche, dass es in dem kleinen, engen Abteil unerträglich heiß wurde. Als ein Mitreisender die Fenster auf beiden Seiten herunterlassen wollte, erhob eine alte Dame, die in Decken und Wollschals gehüllt saß, Einspruch, so dass man sich die erhoffte Abkühlung durch den Windzug nicht verschaffen konnte. Selbst den Pferden wurde der Weg allmählich zu lang, zuletzt fielen sie in einen solch langsamen Gang, dass es schien, als wollten sie stehenbleiben.
Mit um so größerer Freude hatte deshalb der junge Offizier das Landstädtchen begrüßt. Der Postillon lenkte das Gefährt zur Posthalterei, und als die Pferde das harte Pflaster unter ihren Hufen spürten, zogen sie wieder munterer an, als ob sie genau wüssten, dass sie sich nun bald erquicken und ausruhen könnten.
Der Offizier, dessen Rangabzeichen an der Uniform den Kapitän einer Fregatte verrieten, half höflich der alten Dame beim Aussteigen und geleitete sie - als sei es eine Selbstverständlichkeit - in den Gastraum der Poststelle. Die Tochter des Wirtes trat zu ihm und fragte nach seinem Begehr.
"Durst habe ich, einen mörderischen Durst", rief er lachend, "bring mir was Kräftiges, und nicht zu wenig, sonst falle ich noch um vor Durst!"
Der junge Mann schaute zum Fenster hinaus. Draußen waren die Pferde abgeschirrt worden. Nun sah er, dass sie zur Tränke am nahen Brunnen geführt waren und sich am Wasser gütlich taten.
"Brrr!" machte er. "Wie kann man Wasser trinken! Ein Glück, dass ich kein Pferd bin!"
Das Mädchen lachte fröhlich und sagte: "Nun, Euer Gnaden, so schlimm ist es doch gewiss nicht! Aber wenn Euer Gnaden sich gedulden wollen, will ich sogleich Kaffee oder Tee brühen oder Euch einen wohl schmeckenden Saft bereiten."
"Nein, was soll ich denn damit beginnen?", rief mit lustiger Verzweiflung der Kapitän, "Bring mir einen ordentlichen Krug kaltes Bier und ein nicht zu kleines Glas Whisky!"
Ganz plötzlich war des Wirtes Tochter ernst geworden. "Das kann ich Ihnen nicht geben, mein Herr!", sagte sie, und es klang ein wenig traurig, "Wir haben keinen Alkohol im Hause."
Der Mann schaute überrascht auf. "Mein Durst ist nur für Bier und Whisky da!", rief er dann, "Also gehe ich ein Häuschen weiter!"
Während sich die alte Dame Kaffee bestellte, eilte der Kapitän in die Stadt. Er brauchte nicht weit zu gehen. Schon bald fand er ein Gasthaus, das zwar recht altertümlich, aber doch schmuck und sauber aussah. Es lag etwas zurück von der Straße in einem Garten, und zwei mächtige Kastanienbäume überragten es. In ihrem Schatten war es so kühl, dass sich der junge Mann erleichtert an einem Tisch im Freien niederließ. "Na also", dachte er, "da habe ich doch das Rechte gefunden!"
Der Wirt trat bedächtig in die Tür, als er aber den hohen Gast erblickte, beschleunigte er seine Schritte. "Was halten zu Gnaden, hoher Herr?", fragte er und verneigte sich tief. Der Kapitän lächelte spöttisch und antwortete: "Bier, lieber Mann, viel Bier für meinen Durst und ein tüchtiges Glas Whisky!"
Doch was er jetzt erlebte, hat sich in seinem ganzen späteren Leben wohl nicht wiederholt. Der Gastwirt schüttelte missbilligend den Kopf, und fast beschwörend kamen die Worte: "Das solltet Ihr nicht trinken, gnädiger Herr. Gott bewahre Euch vor solchem Teufelsgetränk!"
Das ging dem jungen Offizier doch zu weit. "Spart Eure Reden", rief er aus, und es klang schon ärgerlich, "bringt mir, was ich verlange, alles andere braucht Euch nicht zu kümmern!"
"Dann kann ich Euer Gnaden nicht dienen", entgegnete der biedere Gastwirt, "in meiner Wirtschaft gibt es so etwas nicht."
"Dann eben nicht!" Mit diesen Worten lief der Fremdling weiter. Nun irrte er in den Straßen des Landstädtchens umher. Auf dem Marktplatz lockte ihn eine Wirtschaft, die sich stolz Hotel nannte, weil sie zwei Fremdenzimmer besaß, die hin und wieder von durchziehenden Viehhändlern oder geschäftigen Getreidekaufleuten benutzt wurden.
Misstrauisch betrat der Kapitän die Gaststube. Einige Gäste saßen an weiß gescheuerten Tischen, auf denen Tassen und Kannen mit Kaffee und Tee standen.
Diesmal setzte sich der junge Mann gar nicht, sondern ging schnurstracks zur Theke, wo der spindeldürre Wirt Tassen und Teller spülte. "Hallo, Herr Wirt, gibt's bei Euch Bier und Whisky?"
Ein Grinsen überzog das Gesicht des Dürren. Lachend wandte er sich an seine Gäste. "Habt ihr gehört, Bier und Whisky wünschen der Herr, Bier und Whisky! In unserer Stadt!"
Ein dröhnendes Gelächter war die Folge wie bei einem guten Witz. "Bier und Whisky!", rief ein hagerer, dunkel gekleideter Mann aus, der wie ein Wanderprediger aussah, in Wirklichkeit aber der Stadtschreiber und die rechte Hand des Ortsgewaltigen war. "In unserer Stadt Bier und Whisky? Welch eine garstige Versuchung des Teufels!"
Der Offizier wartete gar nicht ab, bis sich die Aufregung gelegt hatte, sondern hastete zur Gaststube hinaus. Aber soviel er auch in den wenigen übrigen Wirtschaften nachfragte, nirgends erhielt er das Gewünschte. Schließlich war seine Kehle so trocken vor Durst, dass er wohl oder übel einen Topf Milch leerte, den ihm ein alter Landarbeiter anbot.
"Was seid ihr hier für verrückte Leute", sagte er zu dem alten Mann. "Nirgends in dieser elenden Stadt kann man einen Krug Bier und ein Glas Whisky kriegen. Warum eigentlich?"
Der alte Mann hatte in dem Fragesteller einen Mann von Rang und Adel erkannt. Demütig zog er seine Mütze vom Kopf und machte sein Kratzfüßel, wie es sich nach seiner Meinung vor solch einem hohen Herrn gebührte. Aber in seiner Antwort lag dennoch eine solche Sicherheit und in seinem Blick eine solche Festigkeit, dass sie ein hohes Maß innerer Freiheit verrieten.
"Früher war dieser Ort eine Festung des Teufels. Hier wurden auch berauschende Getränke gebraut und getrunken, und ein Einwohner hasste den anderen. Da kam vor hundert Jahren ein Mann in die Stadt und in die Gegend. Seit diesem Tage gibt es hier weder Bier, Branntwein noch Wein."
Der Alte wollte sich abwenden, aber der Kapitän hielt ihn erstaunt zurück. "Wie hieß denn jener sonderbare Kauz, der Euch die Lebensfreude raubte?", wollte er noch wissen.
"Mein Herr", lautete die Antwort, die bei aller Güte und Freundlichkeit doch fest und unbeirrt war, "dieser Mann hieß John Wesley. Er befreite unsere Eltern durch seine Predigt von allen Lastern der Welt und wies ihnen den Weg aus dem Tode zum ewigen Leben in Gott."
Der Landarbeiter trat in seine Hütte. Kopfschüttelnd eilte der junge Kapitän zur Posthalterei zurück, wo die Postkutsche abfahrtbereit auf ihn wartete. Niemals vergaß er dieses eigenartige Erlebnis in der Stadt ohne Alkohol und hat es selbst später wiederholt seinen Freunden erzählt. 

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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