Liebe deinen Nächsten - nur den in der Ferne?

Wilhelm Busch erzählt: Mein Freund Karl war Bergmann und lebte in wildem Streit mit seinen Flurnachbarn. Wie oft hatte ich schon vermittelt und geschlichtet!
An einem Sonntagabend traf ich Karl. "Na, woher?", fragte ich.
"Oh, Sie hätten dabei sein sollen!", rief er begeistert. "Wir hatten im Nordparksaal eine gewaltige Kundgebung!"
"Eine Kundgebung? Um was ging es denn?"
"Wir haben protestiert gegen die Ausbeutung der Kulis in Singapur!"
"Potztausend!", rief ich. "Die Kulis in Singapur! Sogar dafür interessieren Sie sich?"
"Und ob!", rief Karl erregt. "Mit denen sind wir auch solidarisch! Völlig solidarisch! Alle sind unsere Brüder!" Man merkte noch den stürmischen Atem jener herrlichen Kundgebung.
"Alle eure Brüder", rief ich beglückt. "O Karl! Dann werden Sie heute Abend noch zu Ihrem Nachbarn gehen, ihm die Hand geben und ,Bruder' zu ihm sagen."
Da wich der Glanz aus seinem Gesicht. Er wurde finster. Und dann:
"Was? Dieser Kerl! Dieser Schuft! Dieser... denken Sie, was er jetzt wieder angestellt hat... aber den werd' ich auf die Birne hauen."
Alle, alle Brüder! dachte ich und ging davon.

Und wieder einmal wurde mir klar, wie groß es ist, dass in der Bibel steht: "Liebe deinen Nächsten!" Den Fernen zu lieben, das ist nicht schwer. Aber  -  den Nächsten! Da hapert's!

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 454
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