Lektionen aus der Bildhauer-Werkstatt
Ernst Modersohn (1870-1948) erzählt: Zwei Worte habe ich von einem Bildhauer gelernt, der in meiner ersten Gemeinde wohnte, die mir für mein ganzes Leben wichtig geworden sind.
Als ich einmal an seiner Werkstatt vorbeikam, wurde ein ziemlich großer Marmorblock abgeladen. Ich blieb stehen und fragte ihn: »Was wollen Sie denn damit machen, Meister Schmitt?«
Er antwortete: »Da sitzt eine Germania drin, nur der Dreck muss weg!« Mit seinem Künstlerauge sehe er schon in dem Stein eine Germania, er müsse nur den »Dreck« wegschlagen, das überflüssige Gestein, dann käme die Germania heraus.
Sie saß in der Tat in dem Stein. Nach einigen Tagen sah man schon eine Gestalt in plumpen Umrissen. Nach ein paar weiteren Tagen erkannte man eine weibliche Gestalt - richtig, eine Germania kam aus dem Stein heraus. »Nun sind Sie wohl fertig?« fragte ich eines Tages den Meister Schmitt. Da lachte er und sagte: »Jetzt fängt es erst richtig an!« Er legte den Meißel weg und nahm einen Kamm mit eisernen Zähnen zur Hand. »Jetzt kommen die Feinheiten dran«, sagte er. Seine Worte sind mir nachgegangen. Ich habe sie nicht vergessen können. Sind wir nicht auch so ein ungefügiger Block, in dem ein Bild steckt? Das Bild des Heilands, der in unserem Leben Gestalt gewinnen soll und will? Nur: »Der Dreck muss weg.« All das sündhafte, egoistische Wesen muss abgeschlagen werden, damit das Bild Jesu endlich in Erscheinung tritt.
Da nimmt der Herr den Meißel der Trübsal und der Leiden, um uns von dem »Dreck« zu befreien. Wenn der Marmorblock hätte schreien können, hätte man sein Geschrei in der ganzen Gemeinde gehört. Aber wir können schreien, und wir tun es auch, wenn der Herr den Meißel ansetzt, um uns zu behauen. Wie töricht ist das doch!
Eines Tages, als ich wieder einmal eine Weile unserem Bildhauer zusah, fragte ich ihn: »Was machen Sie aber, wenn Sie etwas zu fest gehämmert haben und ein zu großes Stück abgesprungen ist?« Ich wollte wissen, ob dann die ganze Arbeit umsonst gewesen sei, ob er sie von vorn anfangen müsse, oder ob es ein Mittel gebe, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen.
Da schob er seine kurze Pfeife in den anderen Mundwinkel und sagte: »Kommt nicht vor!«
Ich ließ mich aber so schnell nicht abweisen. Ich wiederholte meine Frage mit anderen Worten und mit noch mehr Worten als das erste Mal. Aber ich bekam dieselbe Antwort: »Kommt nicht vor!«
Aber ich fragte ihn zum dritten Mal. Da wurde er beinahe unwillig und sagte: »Wie oft soll ich's Ihnen denn sagen? Kommt nicht vor!« Das war mir eine Predigt fürs ganze Leben. Ob es bei Meister Schmitt nicht vorgekommen ist, das weiß ich nicht. Aber das weiß ich: Bei unserem Gott kommt es nicht vor. Er weiß jedem Schlag seines Meißels so viel oder so wenig Kraft und Nachdruck zu geben, wie es gerade nötig ist. Er schlägt nichts herunter, was nicht in den Abfall gehört.
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