Kritik ohne Kenntnis?
Wilhelm Busch erzählt: Als Hitler um die Macht kämpfte, veröffentlichte er ein Parteiprogramm. In dem stand als Punkt 24: "Wir sind für positives Christentum." Viele treue Christen sind darauf hereingefallen.
Als aber Hitler an der Macht war, erfuhr man, was viele vorausgesehen hatten: Positives Christentum ist dasselbe wie Nationalsozialismus.
Zu gleicher Zeit begann der Kampf gegen die Bibel. Namentlich das Alte Testament wurde unter Trommelfeuer genommen. Überall konnte man hören und lesen: Nun ja, das Neue Testament könne man noch einige Zeit gelten lassen; denn da werde der Gott der Liebe gelehrt. Nur die Briefe des Juden Paulus müsse man ausmerzen. In denen sei der Geist des Alten Testaments zu spüren. Das Alte Testament aber - oh, das sei ein fürchterliches Buch, ein schmutziges Buch, ein grauenvolles Buch! Da rede der jüdisch-syrische Wüsten-Rache-Gott.
In jener Zeit kam eines Tages ein Herr zu mir, ein wirklich netter, sympathischer, sehr gebildeter Mann.
"Herr Pastor!" sagt er: "Ich möchte meinen kleinen Jungen taufen lassen. Aber eine Bitte habe ich: Nehmen Sie den Text aus dem Neuen Testament. Mit dem Alten Testament, mit diesem grauenvollen Buch, will ich nichts zu tun haben."
"Gern will ich Ihren Wunsch erfüllen", erwiderte ich ihm. "Aber sagen Sie mir: Wissen Sie nicht, dass man das Alte und das Neue Testament nicht voneinander trennen kann? Wissen Sie nicht, dass der Gott des Alten Testaments der Vater Jesu Christi ist? Und wissen Sie nicht, dass man die ganze Judenfrage ohne das Alte Testament gar nicht begreifen kann?"
Da unterbricht er mich: "Wir wollen nicht streiten, Herr Pastor. Aber nicht wahr, einen neutestamentlichen Tauftext!"
"Ja!", sage ich. "Das kann man machen!" Ich überlege: "Was halten Sie von dem Wort: ,So spricht der Herr: Ich habe dich je und je geliebt. Darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.' Ist das recht?"
"Prachtvoll! Wunderschön! Sehen Sie, das ist neutestamentlich! Das klingt anders als das Donnern des Rache-Gottes im Alten Testament! Den nehmen Sie!"
Ich muss lachen: "Herr, das Wort ist aus dem Alten Testament!"
Verblüffung, Verlegenheit!
Dann fasste er sich. "So ja, ja! Sicher steht das in einem der kleinen Propheten. Da waren nämlich einige Nicht-Juden dabei."
"Nein, mein lieber Herr", muss ich ihm erklären. "Das steht im Propheten Jeremia, der ganz gewiss ein Jude war. Allerdings war dieser Jude Jeremia hier nur der Beauftragte, der im Namen des lebendigen Gottes sprach."
Jetzt schnappt er nach Luft. Aber ich kann ihm nicht helfen. Noch deutlicher muss ich ihm seine bodenlose Unwissenheit zu Gemüte führen.
"Ich verstehe schon, was Sie wollen", sage ich. Es gibt da ein Bibelwort:
'Schrecklich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen ...'"
"Da haben wir es!", unterbricht er mich. "So spricht der jüdisch-syrische Rache-Gott, dieser schreckliche, alttestamentliche...."
Erschrocken hält er inne; denn ich lache laut los. "Herr! Dies Wort steht im Neuen Testament! Und nun will ich Ihnen mal etwas sagen: Sie rechnen sich zu den so genannten Gebildeten. Und doch urteilen Sie über die Bibel, ohne die mindeste Ahnung von ihr zu haben. Das ist einfach schändlich und lächerlich, ohne jede Kenntnis über ein Buch zu urteilen, durch das die abendländische Welt geprägt wurde. Und es ist ebenso schändlich und lächerlich, über das Judenvolk zu urteilen, ohne dass Sie sich in der Bibel zeigen lassen, was dies Volk im Plane Gottes für eine große Rolle spielt."
Nun, der Mann ließ sich etwas sagen. Und wir haben eine schöne Tauffeier miteinander gehalten.
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