Kreisuhr und Sanduhr - zwei Grundmodelle der Zeitmessung

Vor mir stehen zwei Uhren, beide im Zeitalter der Atom-, Quarz-, Digitalzeitmesser nicht mehr der letzte Schrei. Da ist zunächst die »gute, alte«, die klassische Uhr. Kreisförmig ist ihr Zifferblatt, und auf dem Rund sind Zahlen von 1 bis 12 (bzw. 13 bis 24) angebracht. Unendlich ist die Bewegung auf der Kreisbahn: Jedes Ende ist zugleich neuer Anfang (24 Uhr und 0 Uhr fallen zusammen). Das Kreismodell bei der Uhr ist kein Zufall. Alle Zeitrechnung unserer Vorfahren hat sich am Kreislauf der Gestirne orientiert: der Tag (Sonnenaufgang, - Untergang, -aufgang), der Monat (Neumond, Vollmond, Neumond), das Jahr... Ohne Ende ist (oder scheint doch) diese zyklische Bewegung: »Auf jeden September folgt wieder ein Mai«, klingts sogar im Schlager.
Daneben steht eine Sanduhr, ein Stundenglas. Ganz anders ist die Form: Zwei tropfenförmige Glasgefäße sind mit ihren Spitzen zueinandergekehrt und durch einen feinen Kanal miteinander verbunden. Nach dem Gesetz der Schwerkraft läuft aus dem oberen Behälter unablässig Sand in den unteren (man sieht geradezu die Zeit »verrinnen«), bis das letzte Sandkorn diesem Gefälle gefolgt ist. Dann »läuft nichts mehr«! Dann muss schon jemand von außen eingreifen und das System umkehren. Hier fügt sich der Anfang nicht automatisch an das Ende.
Im Mittelalter und den folgenden Jahrhunderten waren solche Stundengläser auf den Kanzeln befestigt. Man konnte das die Predigt endende »Amen« geradezu »absehen« (noch einen Fingerbreit Predigt, noch ein Zuckerlöffel ...). Aber das gehörte zur souveränen Freiheit des Pfarr-Herrn: Er konnte das Stundenglas noch einmal umkehren mit der Bemerkung: »Liebe Seelen, höret fürderhin andächtig zu!«
Kreisuhr und Sanduhr - zwei Grundmodelle der Zeitmessung! Welchem Muster ist unser Leben verwandt? Wir alle wissen: Wir trösten uns wohl mit dem Satz »Morgen ist wieder ein Tag!«, »Der nächste Urlaub kommt bestimmt!«, »An deinem kommenden Geburtstag sehen wir uns wieder!« Doch die Melodie »Alle Jahre wieder...« lügt.
Nicht das Kreismodell gilt; unsere Lebenszeit verrinnt wie der Sand im Stundenglas. Ein griechischer Arzt in der Antike urteilte, das sei das Elend des Menschen, den Anfang eben nicht wieder an das Ende anknüpfen zu können.
Wir alle wissen es: unser Leben ist »gerichtet«, d. h. es ist (wie eine Einbahnstraße) in einer Richtung festgelegt, ist ein unumkehrbarer Prozeß. Nicht zufällig hat man dem allegorisch dargestellten Tod das Stundenglas als Wahrzeichen in die Hand gegeben. Und wir können fragen: Liegt in diesem unumkehrbaren »Gerichtetsein« unseres Lebenslaufs ein »höheres Gericht«? Meldet sich darin, dass wir noch in viel tieferem Sinn »gerichtete Wesen« sind? Steht hinter dem Prozeß, dem unaufhaltsamen Lauf nach vorn, ein »Prozeß« im anderen, im juristischen Sinn? Die Bibel sieht hier das »Gesetz« unseres Lebens: »Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach das Gericht« (Hebr. 9,27).
(Siegfried Kettling)

Quelle: Wie in einem Spiegel, Heinz Schäfer, Beispiel 1973
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