Kann ein Mensch Gewissheit der Vergebung haben?

Während des Krimkrieges hatten die Russen ein großes Lazarett in Bakschi-Serai, einem kleinen nördlich von Sevastopol gelegenen Städtchen, errichtet, in dem ihre Kranken und Verwundeten verpflegt wurden. Außer den russischen Schwestern waren auch protestantische Diakonissen in demselben tätig.
Eines Tages bemerkte eine der letzteren unter den neu herbeigebrachten Opfern einen Schwerverwundeten, dessen Gesicht einen besonders leidenden Ausdruck zeigte. Mehrere Male versuchte sie vergeblich, Worte aus ihm herauszubringen. Starr und unbeweglich blieb er auf seinem Bette liegen.
Nach einigen Tagen jedoch brach er plötzlich sein Schweigen. Schüchtern bat er die Schwester, ihm doch auf die Frage, die ihn quäle, zu antworten.
"Und die wäre?", sagte sie freundlich, ganz glücklich, ihm endlich dienen zu können.
"Kann ein Mensch", fragte er, "ganz gewiss werden, ob Gott ihm alle seine Sünden vergeben hat?" 
Die Schwester erschrak. Noch niemals hatte sie sich selbst diese Frage vorgelegt und nun wusste sie nicht, wie sie diesem Sterbenden, der sie mit solch angstvollem Ausdruck ansah, antworten sollte. Sie fühlte, dass sie dieser Frage nicht ausweichen durfte, sondern dass sie der gequälten Seele nur mit Gottes Wort dienen könne. Sie zog sich deshalb in ihr Zimmer zurück, nahm ihre Bibel und suchte nach der gewünschten Antwort, fand sie auch ohne Mühe, ja, sie schien ihr auf dem Blatte geschrieben zu stehen.
"Ich schreibe euch, denn die Sünden sind euch vergeben durch Seinen Namen" (1.Joh. 2,12). - "So wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Untugend" (1.Joh. 1,9). - "An welchem (Jesus Christus) wir haben die Erlösung durch Sein Blut, die Vergebung der Sünden" (Eph. 1,7). "Aus Gnaden seid ihr selig geworden durch den Glauben und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es"(Eph. 2,8). "Gott hat euch in Christo vergeben"(Eph. 4,32).
"Es ist doch sonderbar," dachte sie, dass ich das alles noch nie bemerkt habe! Ich hoffte, dass Gott irgendeinmal mir vergeben und mich erretten würde, aber ich hätte es für Hochmut gehalten, zu sagen, dass ich schon erlöst sei." Dann fielen ihr eine Menge von Beispielen aus der Heiligen Schrift ein. Dem  Gichtbrüchigen  hatte Jesus gesagt: "Sei getrost, Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben" (Matth. 9,2). Die  Sünderin, die zu den Füßen Jesu weinte, hörte von Seinen Lippen: "Deine Sünden sind dir vergeben; dein Glaube hat dir geholfen, gehe hin mit Frieden" (Luk. 7, 48.50). Der Schächer, der neben Jesus gekreuzigt war, empfing von Ihm die Versicherung: "Wahrlich, Ich sage dir, heute wirst du mit Mir im Paradiese sein" (Luk. 23,43).
"Diese alle", sagte sich die Diakonissin, "haben doch die Gewissheit der Vergebung gehabt, sonst wären sie ja Ungläubige gewesen." Während sie noch so in ihrer Bibel blätterte, verwunderte sie sich, dass sie dieselbe bis jetzt so wenig verstanden und eine selige Gewissheit ,dass auch sie Vergebung erlangt habe, durchströmte ihr Herz.
Ganz glücklich über ihre eben gemachte Entdeckung und in ihrem eigenen Glauben mächtig gestärkt, kehrte sie an das Lager des Sterbenden zurück, um ihm jene Beispiele zu nennen und ihm jene bestimmten Aussprüche des Wortes Gottes mitzuteilen. Während sie sprach, verklärten sich die Züge des Kranken. Er hatte nun die Antwort auf seine Gebete und auf die bängste Frage seines Herzens. Er glaubte an die Verheißungen und übergab sich mit vollem Vertrauen Dem, der ihn durch Sein Blut von seinen Sünden gereinigt hatte.
In derselben Stunde waren zwei Seelen von der Nacht zum Lichte durchgedrungen, die eine, um alsbald zur ewigen Ruhe einzugehen, die andere, um noch in vollem, tätigen Leben den Segen, den sie selbst empfangen hatte, auch anderen mitzuteilen.

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 940
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