Jemand, der es auch nicht geschafft hat

Ein Prediger erzählt: Vor einigen Jahren wurde ich gebeten, eine alljährliche Freizeit der Oberklasse des Predigerseminars zu leiten. Es ist immer ein besonderes Ereignis - und die Leitung übernimmt gewöhnlich ein hervorragender Pfarrer oder Prediger.
Dass ich außergewöhnlich begabt war, stand für mich außer Zweifel - bisher allerdings schien das kaum jemand gemerkt zu haben! Erst war ich Prediger einer kleinen Gemeinde, dann Hilfsprediger in einer größeren. Ich hatte keine Bücher geschrieben, und auch meine Predigten wurden nie zitiert. Jetzt aber war ich endlich sicher, dass meine Begabungen erkannt worden waren.
Als die Freizeit begann und wir alle versammelt waren, wandte ich mich vertrauensvoll an einen Klassensprecher und fragte ihn: "Wie kam es, dass Sie gerade mich gebeten haben, Ihre Freizeit zu leiten?"
"Na ja", sagte er offen, "wir waren uns klar darüber, dass die meisten von uns nie berühmte Geistliche sein werden. Deshalb beschlossen wir, diesmal jemanden zu bitten, dessen Seminarzeit schon zehn Jahre zurückliegt und der es auch nicht geschafft hat!"
Wenn Christen so ehrlich miteinander reden wie dieser junge Mann mit mir, dann entsteht eine Atmosphäre, in der jedes Posieren unmöglich ist. Vielleicht ist vieles von dem, was in der Gemeinde normalerweise als Demut oder Wohlerzogenheit angesehen wird, in Wirklichkeit Unehrlichkeit, die uns hindert, dass Gott und wir uns gegenseitig richtig kennen lernen können.
Demgegenüber ist Freiheit zum Ehrlichsein eine der wichtigsten Gaben, die Gott seinem Volk gibt, wenn es nur bereit ist, sie anzunehmen.

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1277
© Alle Rechte vorbehalten