Jedem seine Bekehrung

Zur Zeit des bekannten geistlichen Liederdichters Ernst Gottlieb Woltersdorf lebte ein bekehrter Schuhmacher, der die üble Gewohnheit hatte, über alle die Christen, die nicht gerade dieselben Anfechtungen und Kämpfe gehabt und nicht dieselben Erfahrungen im Christentum gemacht hatten wie er, kurzweg abzuurteilen. Eines Tages ließ ihn Woltersdorf zu sich kommen und sagte zu ihm: "Meister N., nehme er mir doch das Maß zu einem Paar Stiefel!" "Sehr gern, Herr Konsistorialrat", entgegnete der Schuster und maß die Stiefel an. "So, jetzt messe er auch meinem Sohne ein Paar an", sagte Woltersdorf weiter. Der Schuhmacher verneigte sich und war ganz glücklich. Als er das Maß wieder zusammengewickelt hatte, fuhr Woltersdorf fort: "Aber, hör er wohl, Meister N., eins muss ich noch sagen: Mache er meine und meines Sohnes Stiefel nach einem Leisten!" "Aber, Herr Rat, das geht doch nicht!" "Warum soll's nicht gehen, probier er's nur einmal!" "Nein, das ist unmöglich, wenn die Stiefel jedem passen sollen." Darauf erwiderte Woltersdorf mit freundlichem Ernst: "Wenn es so mit den Stiefeln ist, so wird's auch wohl bei den Menschen so sein, und Gott wird nicht jeden nach demselben Leisten bekehren müssen."

Quelle: Neues und Altes
© Alle Rechte vorbehalten