In eigenen Ketten gefangen

Von einem Schmied im Mittelalter geht die Rede, dass er über eine unübertreffliche Fertigkeit im Schmieden von Ketten verfügte. Seine mit starker Hand und gewaltigem Schlag zusammengefügten Kettenglieder hielten jeder Belastung stand und spotteten jedem Zuggewicht. Nur allzu gern war der Schmied bereit, seine bärenhafte Kraft zu beweisen. So zerbog er nach Lust und Laune vor den Augen seiner mächtig beeindruckten Zuschauer Hufeisen jeder Stärke und bog Eisenstangen von unwahrscheinlicher Dicke einfach übers Knie.
Dieser Kraftmensch hatte aber  -  es soll heute noch vorkommen  -  ausgesprochene Schwächen. Er verübte einen Diebstahl und wurde auf frischer Tat ertappt und zu schwerer Kerkerhaft verurteilt. Unser Hüne lächelte nur ingrimmig, als man ihn zur Vorsicht noch an schwere Ketten fesselte. Ein Glück, dass man nicht zu wissen schien, dass seinen Pranken keine Kette gewachsen war! Um diese armseligen Fesseln zu sprengen, würde er nur seine Muskelpakete ein wenig spielen lassen müssen!
In einer unbewachten Stunde zog der Häftling die Kette an die hellste Stelle des Kerkers, um sie näher zu beschauen und das schwächste Glied herauszufinden. Dann  -  wehe dem nächsten, der den Kerker betreten würde! Doch kalter Schreck fuhr dem Gefangenen in die Glieder: An einem Kettenglied erkannte er das Zeichen, das er an die von ihm geschmiedeten Ketten anbrachte! Und diese Ketten rissen nie! So sah sich der Mann in seiner eigenen Kette unrettbar gefangen.
In den eigenen Ketten gefangen!  -  Es braucht einer nicht Kettenschmied zu sein und nicht im Mittelalter gelebt zu haben, um an sich selber zu erfahren, wie stark und fest solche Fesseln halten. Kaum einer unter uns, der es nicht am eigenen Leibe erfahren hat, wie ungestüm Triebe in unserem Herzen jeder Willensanstrengung, jedem Vorsatz, jedem Zureden trotzen. Wenn Paulus schon davon spricht, dass er zwar das Gute wolle, dass ihm aber die Kraft zum Vollbringen fehle, dann müssen wir uns dieser Aussage und diesem Eingeständnis anschließen.
In stillen Stunden hat wohl jeder von uns schon mit tiefem Erschrecken gespürt, welchen Mächten wir Einlass verschaffen durch ein auch nur unvermerktes Abrücken von Gott. Unsere Triebe bekommen Macht über uns, wo Gott sie nicht mehr hat.

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 140
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