Ich wusste doch, dass du kommst!

In der Bahnhofshalle fährt ein Zug ein, aber die Mutter steht nicht wie versprochen auf dem Bahnsteig. "Dann steht Mutter unten", denkt die Neunjährige und schleppt den Koffer allein die Treppe hinunter. Mutter ist aber auch nicht an der Sperre. "Dann ist Mutter draußen." Mit dem Koffer geht's durch die große Halle. Mutter ist auch nicht vor der Halle. Das Kind ist ein wenig erstaunt,  -  es ist so anders, als es sich alles während der Fahrt ausgemalt hat  -  aber es bleibt ruhig. "Dann ist Mutter gerade die Straßenbahn weggefahren!" Das Mädchen setzt sich schützend auf den Koffer, der seinen ganzen Besitz an Kleidung enthält, und schaut in die Richtung, aus der Mutter kommen muss.
Zehn Minuten nach Zugeinfahrt sind vergangen. Mitleidige Augen streifen im Vorbeigehen das einsame Kind. Es sitzt da, wachsam, ruhig und selbstverständlich wie in der ersten Minute. Der Kopf fliegt nicht von rechts nach links. Keine Tränen stehen ihm in den Augen, keine Verärgerung entstellt das Gesicht. Die Augen schauen nach der einen Richtung, aus der Mutter kommen wird. Plötzlich steht Mutter da. Sie kam aus einer anderen Richtung. Es hatte unvorhergesehen jemand unterwegs ihre Hilfe gebraucht. So hatte das eigene Kind warten müssen. Nun fiel der jubelnde Ruf "Mutter!" und "Mein Kind!" in eins zusammen.
"Hast du große Angst gehabt, als ich weder oben noch unten im Bahnhof war?"
"Angst? Aber Mutter, ich wusste doch, dass du kommst!"
"Gut, dass du das so genau wusstest, mein Kind! Aber wenn es noch länger gedauert hätte?"
"Dann hätte ich gewusst, du konntest nicht kommen, und ich wäre allein heimgefahren. Nur das mit dem schweren Koffer wäre dumm gewesen."
Die Mutter kann nicht anders, sie nimmt noch einmal mitten auf der Straße ihr Kind in die Arme.
Das Kind wusste nichts von seiner kleinen Kindertapferkeit. Es wusste nur: Es hatte keine Angst gehabt, es hatte sich darauf verlassen, dass die Mutter kommt. Aber nun ist es doch herrlich, dass Mutter da ist und den Koffer nimmt und sie zusammen heimfahren.
Die Mutter liegt abends noch lange wach und sieht immer das Kind vor sich, wie es ruhig und gewiss am Bahnhof stand und wartete. Sie schämt sich auf einmal. Sie muss denken, wie die großen Menschen  -  und oft ist sie mit dabei  -  sich meist anders benehmen, wenn der himmlische Vater sie einmal warten lässt. Da ist rasch Groll und Aufbegehren da, weil Gott "einen so im Stich" lässt. Man hat doch nichts Schlechtes getan! Man hat sich sogar bemüht, ein rechter Christ zu sein! Immer mehr wühlt man sich in Bitternis hinein, immer unruhiger, unsicherer, zerfahrener, unleidlicher und oft gar verzweifelt wird man davon! Es geht ja aber bei alledem nicht nur darum, dass wir unser Gottvertrauen verlieren, sondern es wirkt ansteckend und wirkt wie Gift für die um uns herum, die es miterleben. Sie werfen ihr Gottvertrauen dann leichter weg. Das wartende Kind machte der Mutter keine Vorwürfe. Es stellte in seinem Herzen und in seinen Gedanken der Mutter keine Bedingungen. Es rechnete ihr nicht vor, wann sie da sein müsse, um nicht seine Liebe zu verlieren. Das Kind trug den schweren Koffer, es wartete und sagte dann: "Ich wusste doch ... !", und zuletzt jubelte es.
Die müde Frau dachte vor sich hin. Wir sollen den Kindern Vorbild sein. Heute war's das Kind mir. Ich will von nun an meine Last auch so selbstverständlich tragen, wie das Kind seinen Koffer trug, und will still abwarten, ob und wann der himmlische Vater uns seine Hilfe gibt! Sie kommt, allerdings vielleicht von einer ganz anderen Seite als erwartet! An Got, den Vater, glauben, bedeutet zu wissen, dass er hilft, für uns sorgt und sich unser ganz väterlich annimmt.

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 347
© Alle Rechte vorbehalten