Hüte dich vor den Wahrsagern!
Dieser Geschichte, die sich vor einer Reihe von Jahren ereignete, entsinne ich mich noch so deutlich, als sei sie gestern geschehen. Vielleicht kann sie manchem zur heilsamen Warnung dienen. Leider sind Karten legen, Wahrsagen aus der Hand und Schicksalsdeutungen aus den Sternen heute mehr verbreitet, als man gewöhnlich denkt, und Arme und Reiche, Einfältige und Kluge scheuen sich nicht, sich "voraussagen" zu lassen.
Die meisten denken nicht daran, dass sie sich damit leichtsinnig gegen Gottes Gebot versündigen und dass solche Übertretungen nicht ungestraft bleibt. "Es ist ja nur eine kleine Unterhaltung und noch weniger ein Spaß, und wie bitter sich gerade die Missachtung des göttlichen Gebotes manchmal rächt, möge die folgende Begebenheit zeigen.
An einem herrlichen Spätsommertage gingen vier fröhliche, junge Mädchen über Land, um in einem nahe gelegenen Dorf eine Freundin zu besuchen. In heiterer Unterhaltung mit harmlosen Scherzen verbrachten sie gemeinsam den schönen Nachmittag. Als die Gäste gerade wieder heimgehen wollten, erscholl plötzlich der Ruf: "Zigeuner, Zigeuner!" Gleich darauf wurde ein kleiner Trupp des heimatlosen, braunen Volkes sichtbar. Bettelnd und wahrsagend durchzog es das Dorf. Es dauerte nicht lange, da trat eine junges Zigeunerweib mit feurigen, schwarzen Augen und einem Kind auf dem Arme auch in das Zimmer, in welchem die Freundinnen versammelt waren. In ihrem gebrochenen, aber gut verständlichen Deutsch bat sie um milde Gaben und sagte dann: "Schöne, blanke Fräulein, die schwarze Zita kann auch wahrsagen aus Hand, ganz wahr! Gib mir die Hand rechtes! Wer will hören von Glück und Reichtum? Zita zufrieden ist mit kleinem Lohn."
Zudringlich ergriff sie die Hand des ihr am nächsten stehenden jungen Mädchens. Doch Martha Klein zog ihre Finger unwillig aus der Rechtes des braunen Weibes und sagte abschweifend: "Ich danke, ich mag mein Schicksal nicht im voraus wissen; denn das ist unrecht und von Gott verboten."
"Aber Martha", sagte Anna Leubner, ein bildhübsches, blühendes Mädchen lachend, "wie kannst du nur alles gleich so tragisch nehmen! Das ist doch nichts als ein reizender Spaß, eine angenehme Unterhaltung!"
"Nein, es ist kein Spaß", beharrte Martha weiter, "ich bin überzeugt, du würdest im Innern fest daran glauben, was die Frau prophezeit. Und darum ist die ganze Sache unrecht, ja Sünde. Ich bitte dich, schicke die Fremde fort. Bedenke doch, was uns der Prediger über das dritte Gebot sagte!"
"Ach was, Martha, sei doch nicht so ängstlich und verdirb uns mit deiner Predigt nicht den Spaß", riefen nun auch die beiden Schwestern Elisabeth und Hanna Reich. "Wir möchten ums Leben gern wissen, was die Zigeunerin aus unsrer Hand lesen wird. Das kann kein Unrecht sein; denn viele andre Leute tun das auch."
"Ja, ja, so ist`s", stimmte Anna Leubner bei, "und darum wollen wir nicht besser sein als die anderen. Da, gute Frau, da habt ihr meine Hand. Ich will den Anfang machen. Nun prophezeit mir nur etwas recht Schönes!" Die Zigeunerin lachte verschmitzt, setzte ihr Kind auf den Boden, wo es ruhig spielt und die geschenkte Semmel verzehrte. Erwartungsvoll scharten sich die Freundinnen um das braune Weib, und es wurde ihnen doch etwas sonderbar zumute, als es die Rechte des hübschen Mädchens ergriff und nach verschiedenen unverständlichen Worten feierlich begann: "Glück und Unglück kommen aus einer Hand. Die blanke Tochter verheiraten sich zweimal sehr glücklich und verlieren gleich zweimal das Liebste! - Zufrieden, Fräulein?" "Nun, mehr kann man nicht verlangen", entgegnete Anna Leubner, wobei sie etwas gezwungen lachte. "Zwei Männer und mit beiden glücklich! Ich muss gestehen, ich wäre mit einem zufrieden. Aber nun bist du an der Reihe, Elisabeth. Ich bin neugierig, was die Sybille dir prophezeiten wird!"
"So lasst doch den Unsinn!", rief Martha Klein unwillig. "Ich dachte, ihr hättet genug davon. Macht euch lieber fertig, damit wir nicht so spät nach Hause kommen!"
Doch davon wollten die anderen immer noch nichts wissen. - "Nun lasst uns das Spiel auch zu Ende führen", riefen sie in jugendlichem Übermut, "jetzt wird's erst interessant. Nach Hause kommen wir noch rechtzeitig genug. Hanna, lass dir nichts einreden, fahre du jetzt fort." Betrübt und über solchen gefährlichen Leichtsinn bekümmert, setzte sich Martha wieder auf ihren Platz, während die jugendliche Hanna der Zigeunerin ihre Rechte bot. Sei es nun, dass die Wahrsagerin durch die Gegenreden erbost war oder dass der klingende Lohn Hannas ihr nicht genug zusagte, sie machte diesmal wenig Umstände. "Ihr werdet am 3. Juli 1939 sterben", sagte sie mit höhnischem Lachen, raffte hastig das Kind vom Boden auf und verschwand, ehe die verblüfften Mädchen noch wussten, wie ihnen geschah. Hanna Reich war totenbleich geworden, und erschrocken sahen die anderen bald auf sie bald auf die davoneilende Zigeunerin.
Bis auf Martha Klein standen alle unter dem Bann einer unheimlichen Macht und bereuten bitter, der Freundin nicht gefolgt zu sein. Sie allein hatte ihre Fassung nicht verloren. In energischem Tone und bester Absicht ergriff sie jetzt das Wort, um die erschreckten Mädchen wegen ihrer törichten Ängstlichkeit und Besorgnis gehörig zurechtzuweisen: "Seht ihr wohl, das kommt davon! Wer nicht hören will, muss fühlen. Ich wusste ja, dass dabei nichts Gutes herauskommen könnte. - Hanna, ich bitte dich, mach` nicht solch ein verzweifeltes Gesicht. Du wirst doch nicht etwa glauben, was das dumme Weib gesagt hat? Unser Leben steht allezeit in Gottes Hand, und wie sollte er einem Zigeunerweibe dessen Ziel und Ende offenbaren! Komm, sei vernünftig und vergiß die ganze Dummheit."
Doch das war leichter gesagt als getan. Obwohl Martha sich auf dem Heimweg die erdenklichste Mühe gab, die Freundinnen auf andere Gedanken zu bringen, wollte ihr dies nicht recht gelingen. Es lag ein unheimlicher Bann auf der noch vor kurzem frohen, jungen Gesellschaft. Trübsinnig und missgestimmt kamen sie zu Hause an; besonders Hanna Reich war sehr erregt. Sie konnte die Prophezeiung des Zigeunerweibes nicht einen Augenblick vergessen. Und gerade dieses Nicht-vergessen-können betrachtete sie als sicheren Beweis, dass die Frau wahr geredet hatte. Infolgedessen beunruhigte und quälte sie unausgesetzt der Gedanke an ihren nahen Tod und raubte ihr jede Lust und Freude am Leben. Mit dem Näherrücken des bezeichneten Tages nahm ihre Seelenangst zu, und das vor kurzer Zeit frische und fröhliche Mädchen verzehrte sich förmlich vor Furcht und Erwarten der Dinge, die da kommen sollten.
Auch die anderen litten mehr oder weniger an der Erinnerung an jenen törichten Jugendstreich. Die einzige unbefangene und unveränderte war Martha Klein. Und mit allen Kräften bemühte sie sich, der lieben Freundin den Glauben an die Prophezeiung auszureden. Leider waren jedoch ihre freundlichen Vorstellungen ganz umsonst. Hanna verfiel immer mehr, und ihre einstige jugendliche Heiterkeit verwandelte sich in Trübsinn und stumpfes Hinbrüten. "Lass mich! Seinem Schicksal kann nun einmal niemand entgehen", sagte sie ergeben, wenn Martha sie unter Tränen bat, sich aufzuraffen und durch Gottvertrauen und Fröhlichkeit die Reden des braunen Weibes Lügen zu strafen.
Als der verhängnisvolle Tag herankam, lag die Bedauernswerte todkrank und fiebernd im Bette, und der Arzt erklärte, dass sie ihrem Ende entgegenginge. - "Reißend schneller Verfall der Kräfte", hatte der achselzuckend festgestellt und dann hinzugefügt: "Mir geradezu unerklärlich, da die Patientin keine Anlage zu Schwindsucht hat, sondern mit ihrer Naturanlage noch ein hohes Alter erreichen könnte! Es sieht geradezu so aus, als ob ein inneres Feuer alle ihre Lebenskräfte verzehre."
So war's tatsächlich. Die Angst raffte die Ärmste in der Blüte ihrer Jahre dahin. Zwar war es ihr noch vergönnt, in Frieden mit Gott und den Menschen zu sterben, aber das änderte an der Tatsache selbst nichts. Hätte Hanna Reich sich nicht wahrsagen lassen, sie wäre gewiss nicht so jung gestorben. Der unheilvolle Glaube an die Worte der Zigeunerin und die namenlose Furcht vor deren Erfüllung hatten sie krank gemacht und auch ihren Tod verursacht.
Wenige Wochen, bevor Hanna starb, hatte sich Anna Leubner verlobt. In ihrem Glück vergaß sie zuerst die verhängnisvolle Prophezeiung. Als nun Hanna Reich erkrankte und von Tag zu Tag schwächer wurde, dachte Anna mit Entsetzen an die Zigeunerin. Wie, wenn die Unheimliche doch "wahr" gesagt hätte? Wenn nun auch das zweimalige Heiraten eintreffen müsste? Ach, es wäre schrecklich! Hinfort konnte die arme Braut sich nur noch zitternd ihres Glücks erfreuen, und tausendmal bereute sie, dass sie damals nicht auf die Warnungen der getreuen Martha gehört hatte. Auch die verständigen Ermahnungen ihres Bräutigams, dem sie endlich die ganze unselige Geschichte beichtete, beruhigten sie wenig. Angstvoll verfolgte sie den Verlauf von Hannas Krankheit, und jede Nachricht einer Verschlechterung gab ihr einen Stich ins Herz. "Wenn Hanna stirbt, weiß ich, was ich weiß", sagte sie weinend. "Geradeso wie sie bin auch ich meinem Schicksal verfallen!" - Es war ganz umsonst, dass man ihr vorstellte, ein Christ könne nie einem Schicksal verfallen, sondern befinde sich stets in Gottes gnädiger und weiser Vaterhut, und dass ohne des Allmächtigen Willen und Wissen kein Haar von unserm Haupte falle.
"Aber es kann ja gerade Gottes Wille sein, dass ich mein Liebstes bald wieder verlieren soll", stöhnte sie. "Meine Schuld und mein Unglück ist eben, dass aus verwerflichem Vorwitz ich es schon jetzt erfahren habe."
Bei der Nachricht von Hannas Tode war die Ärmste ganz außer sich. Es bedurfte schließlich der ernstesten und strengsten Ermahnungen, sie zu der Einsicht zu bringen, dass die Freundin lediglich aus Angst und Furcht vor der Prophezeiung gestorben sei und sie selber nicht zu befürchten habe, wenn sie im Vertrauen auf dem Herrn in die Ehe treten würde. Es blieb trotzdem ein Stachel in ihrer Seele. Und selbst an ihrem Hochzeitstage konnte sie sich eines heimlichen Angstgefühls nicht erwehren. Voll Reue und Scham musste sie daran denken, wie ungetrübt sie ihr Glück hätte genießen können, wenn sie sich damals nicht hätte wahrsagen lassen, sondern die Warnungen ihrer Freundin Martha Klein beherzigt hätte. -
Viele Jahre sind vergangen; Annas Mann lebt immer noch, ist frisch, gesund und kräftig, und nichts lässt darauf schließen, dass die schlimme Prophezeiung der Zigeunerin in Erfüllung ginge. Die beiden Eheleute sind glücklich miteinander, und man sollte meine, es sei nun alles vergessen; denn äußerlich verrät Anna keine Angst mehr. Sei scheint erkannt zu haben, dass alle unsre Wege, Ziel und Ende allein in Gottes Hand stehen. Manchmal jedoch, besonders wenn ihr Mann verreist ist, kommt die alte Angst wieder über sie und lässt sie sorgen und bangen um sein Leben. Ja, schon sein Ausbleiben abends über die übliche Zeit verursacht ihr oftmals Unruhe und Schrecken. Der Gedanke: "Wenn's dennoch wahr wäre, was einst die Zigeunerin gesagt hat?", beängstigt sie dann, so sehr sie sich bemüht, ihn zu überwinden.
Trotz aller Kämpfe und redlichen Bemühungen kann sie nie ganz davon loskommen und gelangt auf diese Weise niemals zum vollen, ruhigen, ungestörten Genuss ihres Glückes. "Hätte ich doch nur jenes Weib nie gesehen!", hat sie schon häufig gesagt und stöhnt sie auch jetzt noch manchmal. Und dann fährt sie meist fort: " Wer konnte aber auch ahnen, dass sich diese Übertretung des dritten Gebotes so schwer rächen würde! Ohne die Prophezeiung der Zigeunerin lebte Hanna vielleicht heute noch, und ich brauchte nicht unausgesetzt um meinen Mann bangen!"
Die Heilige Schrift fordert: "Ihr sollt euch nicht wenden zu den Wahrsagern, und forscht nicht von den Zeichendeutern, dass ihr nicht an ihnen verunreinigt werdet." Wenn sich die Menschen nach diesem unmissverständlichen Worte richten würden, gäbe es weniger Angst und mehr Frieden auf der Welt. Nun aber erfüllt sich in unseren Tagen die göttliche Voraussage: "Es wird eine Zeit sein, da sie die heilsame Lehre nicht leiden werden; sondern nach ihren eigenen Lüsten werden sie sich selbst Lehrer aufladen, nach denen ihnen die Ohren jucken, und werden die Ohren von der Wahrheit wenden und sich zu den Fabeln kehren."
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