Gratwanderung - einsam oder gemeinsam?

Pastor Wilhelm Busch erzählt: Es war, als ich meine Ferien in einem netten Städtchen im bayrischen Allgäu verbrachte. Jeden Morgen zog ich los in die Berge. Wie war das schön, dieses einsame Wandern!
Eines Tages hatte ich mir einen Gipfel vorgenommen. Längst hatte ich die letzten Menschen hinter mir gelassen. Nun ging es einen steilen Hang hinauf. Die Sonne brannte. Ringsum herrschte tiefe Stille. Auf einmal fuhr ich zusammen. Steine kollerten. Und dann jagte ein Rudel Gämsen nahe an meinem Weg vorüber.
Ich war erschrocken und dann so tief beglückt über den seltenen Anblick, dass ich mich erst ein wenig setzen musste. Mein Herz klopfte noch stark, als ich am Ende des Hanges auf einen schmalen Gratweg kam. Wundervoll war der Ausblick in die Berge.
Aber dieser Gratweg nun! Der war nicht nach meinem Geschmack. Ich gehe so gern in die Berge. Aber leider bin ich nicht schwindelfrei. Und so kam es, dass ich schließlich stehen bleiben musste, weil der Weg nach beiden Seiten senkrecht abfiel.
Da lag der Gipfel vor mir  -  nur noch hundert Meter! Ich gab mir selbst die Sporen. Ich schalt mich einen elenden Kümmerling. Aber ich wagte die letzten hundert Meter nicht. Ich sagte zu mir: "Diese hundert Meter sind überhaupt nicht schlimm. In der Schweiz hast du mit deinen Freunden ganz andere Wege gemacht!" Aber es ging nicht. Wer den Schwindel kennt, der versteht mich. Die Einsamkeit war auf einmal erschreckend. So kehrte ich endlich um, stieg ab und war richtig böse mit mir selbst.
Wenige Tage später bekam ich Besuch. Zwei junge Pfarrer aus Württemberg, die ich bisher nur aus Briefen kannte, hatten mich aufgestöbert. Sie kamen schon am Morgen. Nach dem Frühstück schlug ich eine Wanderung vor. Und dann kam mir ein Gedanke: Versuche doch noch einmal diesen dummen Gipfel! Mit den Freunden wird es sicher besser gehen.
Ich sagte ihnen kein Wort von dem, was mir widerfahren war. Fröhlich stiegen wir auf. Wenn der Weg nicht anstieg, waren wir sofort in muntere Gespräche verwickelt. Und so ging es über den Gratweg und die letzten hundert Meter auf den Gipfel. Es gab nicht die geringste Schwierigkeit. Diese jungen Männer stiegen ganz selbstverständlich über die Stelle, die mich erschreckt hatte. Mit derselben Selbstverständlichkeit ging ich mit ihnen.
Das wurde mir zum Gleichnis. Unser Christenweg ist auch so eine Gipfelwanderung. Da kommen wir manchmal an Stellen, wo wir meinen: "Das kann ich nicht. Dies Opfer kann ich nicht bringen. Diesen Glauben kann ich nicht haben. Dieses Wegstück ist mir zu schwer."
Wenn man aber die Brüder hat, dann macht einer dem anderen Mut. Was dem einen schwer dünkt, kommt dem anderen leicht vor. So nimmt einer den anderen mit, und so kommen wir ans Ziel.
O ja, wir brauchen die Brüder!

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 393
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