Gottes Gericht entrinnt keiner!

Alte Kirchhöfe habe ich immer gern aufgesucht. Aus dem Lärm und der Unruhe der Stadt einmal untertauchen in den tiefen Frieden jener stillen, schweigenden Gärten, die eine stumme Sprache reden, jedem, der ein Ohr für ihre der Welt abgewandte Stimme hat - das ist mir immer wieder ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Es ist, als stände das Wort der Heiligen Schrift auf jedem verfallenen Hügel, jedem verwitterten Kreuz, jedem vertrockneten Blumenkranz: "Der Tod ist der Sünde Sold!" - Und ein anderes Wort leuchtet verheißungsvoll aus jungem Grün, frischen Blüten, lachendem Sonnenschein und frohem Vogelsang: "Die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christo Jesu." - 
In Zeitz an der weißen Elster fand ich auf dem alten Michaelisfriedhof ein verfallenes Grab, vom Grase überwuchert; ein verwittertes, graues, kleines Steindenkmal nur, von Efeu umsponnen, kündet, dass hier ein stiller Schläfer ruht. Eine Inschrift ist nicht mehr zu erkennen; sie ist von Wind und Wetter verwischt worden. Aber ein in den Stein gemeißelter Totenkopf mahnt als Zeichen der Vergänglichkeit, und wie ein seltsames Geheimnis mutet den Zuschauer eine im Stein neben dem Schädel abgebildete Kröte an.
Lange stand ich davor und sann darüber nach, welche Bedeutung wohl diese Darstellung haben könnte, die man hier wie ein Wahrzeichen angebracht hatte.
Von einem weißhaarigen, alten Mann, einem geborenen Zeitzer, der gerade vorüberging und den ich darum befragte, hörte ich folgende eigenartige Geschichte: Da lebte einmal vor vielen Jahren in Zeitz ein Ehepaar, ein alter Schmiedemeister und seine junge Frau. Der im Hause weilende Schmiedegeselle und die junge Meisterin fanden Gefallen aneinander; ihre Herzen waren so voll finsterer und böser Gedanken, dass sie beschlossen, den alten Schmied, der ihrer Bindung im Wege stand, aus der Welt zu schaffen. Der Plan wurde genau zurechtgelegt und in einer dunklen Nacht ausgeführt. Sie schlugen dem ruhig schlafenden Meister einen Nagel in den Kopf, so dass der Nagelkopf durch das Haar des Getöteten verborgen blieb. Die Leute wunderten sich zwar, dass der Meister ohne vorherige Krankheit plötzlich verstorben war; dennoch wurde er ohne weiteres begraben. Die Witwe heiratete nun ihren Gesellen, und alles schien vergessen zu sein. 
Nach fünfundzwanzig Jahren wurde das Grab geöffnet, um eingeebnet zu werden. Kaum hatte der Totengräber, der eben die Knochenreste des Schmiedemeisters auf die Erde geworfen hatte, sich abseits auf einen Stein gelegt, um die Arbeit ein Weilchen ruhen zu lassen und sein Vesperbrot zu verzehren, als er plötzlich lautes Kreischen hörte. Es kam von einigen Kindern, die neben dem offenen Grabe standen und mit den Fingern auf die Knochen deuteten.
Als er aufstand kreischten sie nur noch lauter: "Seht ... seht doch ... der Totenkopf wackelt!"
Wütend trieb der Alte die Kinder vom Friedhof. Dann setzte er sich und aß weiter. Dabei glitt sein Blick über das Grab, und jetzt bemerkte auch er, dass der Schädel - ein sonderbarer Anblick! - sich hin und her bewegte; es schien fast, als wollte der wackelnde Kopf da drüben ihm grinsend etwas bestätigen. Neugierig stand der Alte auf. So hatten die Kinder doch Recht gehabt? Er bückte sich und nahm den Schädel auf, um nachzusehen, was dies bedeutete. Da blickte ihn aus den leeren Augenhöhlen eine Kröte an, die hineingekrochen war und die Bewegungen des Totenkopf verursacht hatte. Zugleich bemerkte aber der Alte auch - einen großen Nagel in der Schädeldecke. Er erinnerte sich sofort des vor fünfundzwanzig Jahren so plötzlich verstorbenen Schmiedemeisters und schloss aus dieser furchtbaren Entdeckung, dass ein Verbrechen vorliegen müsse. Die Schmiedemeistersfrau und der Geselle, die noch lebten, gestanden die Tat ein und wurden hingerichtet. 
Der alte Mann, der mir dies berichtete, war schon lange gegangen, als ich immer noch an dem Grabmal stand, das der Nachwelt Zeugnis vom Walten einer hohen Gerechtigkeit ablegt, die schon hier auf Erden oft in seltsamen Fügungen zu den Menschen spricht und sich sogar eines unscheinbaren, verachteten Tierleins als Werkzeug bedienen kann.

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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