Gott teilt den heißen Lavastrom

Am Fuße eines Berges in Java lebte seit Jahren eine chinesische Christin. Sie besaß dort ein bescheidenes Anwesen mit einem kleinen Hause inmitten der herrlichen Fülle und Mannigfaltigkeit der Vegetation. Ihr Besitztum war nur klein, aber das wenige Feld reichte vollkommen aus, um sie und ihre Familie zu ernähren.  Die Menschen dieser reichsten und schönsten Sundainsel mochten sich glücklich schätzen; denn fast mühelos wuchs ihnen alles entgegen, was ihrer Bescheidenheit genügte. Unten an der Küste dehnten sich in den fruchtbaren, feuchten Niederungen die weiten Reisfelder aus. Bis an den Strand drangen die herrlichen Palmen und die blütenreichen Leguminosen vor. Hier oben aber im hügeligen Hochland, wo sich das kleine Haus an den Hang des Klut-Berges duckte, entfalteten die dichten, großen Urwälder eine schier unvorstellbare Pracht und Schönheit. Da wuchsen üppig die unzählbaren, herrlichen Feigenbäume, an ihren Stämmen und auf ihren Zweigen wucherten die buntesten Orchideen, und den fetten Boden bedeckten Farne und zierlicher Bambus. In den oberen Regionen bildeten die Ischermorobäume große zusammenhängende Wälder, während sich in einer Höhe von 1600 Metern die Eichen und Laurusbäume mit einer verwirrenden Fülle von Orchideen, Rotangpalmen und Rubiazeen zu lichten Wäldern vereinten. Oben auf dem Gipfel des Klut-Berges aber standen mächtige Teakbäume wie Riesen aus der Vorzeit, um sie herum bückten sich Sträucher, Konifseren, Farne, Moose und Flechten.
Die Chinesin nahm es mit ihrem christlichen Glauben ernst. Es genügte ihr nicht, das Feld zu bestellen, die Ernte einzubringen und die Früchte in der nächsten Stadt auf dem Marktplatze zu verkaufen. Sie sprach zu den Nachbarn, die ausnahmslos Mohammedaner waren, von dem, was ihr Herz erfüllte. Aber ihre Worte fanden keinen fruchtbaren Boden. Die Javaner hörten höflich, aber misstrauisch zu und blieben bei den Suren des Korans und bei ihren heidnischen, abergläubischen Gewohnheiten.
Nun ist Java bekanntlich nicht nur die reichste und am stärksten bevölkerte Sundainsel, sondern weist auch die meisten feuerspeienden Berge auf. Es gibt etwa 45 bedeutende Vulkane, die kleineren werden gar nicht gezählt. Die ganze Insel in ihrer gesamten Länge von ungefähr 1.000 Kilometern lebt auf vulkanischen Untergrund. Viele dieser Berge gelten als erloschen, bis sie plötzlich wieder ihren Mund öffnen und Tod und Verderben ausspeien. 
Auch von dem Klut-Berg sagte man, dass kein Leben mehr in ihm sei. Er ragte in einsame Höhe hinauf, oben wuchsen Teakbäume, und in seinem Krater hatte sich ein kleiner See gebildet, in dem es nur dann und wann aufzischte. Die Eingeborenen hatten ihre Dörfer mit den leichten Bambushütten, aber auch schlichten Steinhäusern bis hoch hinaus geschoben und lebten sorglos und heiter, wie es nur die liebenswürdigen Menschen dieses Landes vermögen.
In die friedliche Stille der idyllischen, javanischen Landschaft hinein platzte ohne vorherige Anzeichen die Kuppe des Klut-Berges mit unheimlicher Wucht - eine der vielen ähnlichen Katastrophen der ständig bewegten Insel. Das geschah im Jahre 1919. Die Hölle schien ihren Schlund geöffnet zu haben, gewaltige Massen an feuerflüssiger Lava schossen in die Höhe, es hagelte Steine und Asche, und ein Wirbelwind knickte und entwurzelte die starken Bäume des tropischen Waldes. 
Und dann floss ein langer, feuriger Strom breit und unaufhaltsam den Berg hinunter, walzte die Büsche und Bäume hinweg, breitete sich in den Gärten des schmalen Tales aus, begrub und verbrannte alle Häuser, die im Wege standen. Es gab kein Hindernis für die zähe, glühende Flut.
Die Menschen hetzten den Berg hinunter. Nur wenige retteten ihr Leben. Aus dem geknickten Dickicht des Urwaldes brachen in grauenvoller Angst die Tiere hervor, rasten an dem Häuschen der Chinesin vorüber, alle nur ein Ziel - die Niederungen weit weg vom Berge, alle wirr durcheinander ohne Sinn für das andere: Da hasteten die hochbeinigen Hirsche neben den leichtfüßigen Gazellen; zwischen den Affen, Wildschafen und Wildziegen stampften vereinzelt Büffel und sogar ein Rhinozerosse, und auch die leuchtenden Farben eines Königstigers und das Schwarz eines Panthers tauchten für Augenblicke auf.
Die fromme Frau hatte gesehen und gehört, wie der Berg explodierte, und war ins Haus gegangen, um wenigstens einige wenige Habseligkeiten zusammenzuraffen. Da versagten ihre Kräfte. Die mohammedanischen Nachbarn eilten vorbei und riefen ihr entsetzt zu, sie solle sich retten. Sie vermochte es nicht. Unaufhaltsam strömt die Lava dampfend und sengend hinunter, gerade auf das Haus der Chinesin zu. 
Zuerst hatte sie mit ängstlich geweiteten Augen auf das sich nähernde Unheil gestarrt. Dann aber war ihr plötzlich, als spräche jemand ein Wort zu ihr, ein Wort, dessen Bedeutung ihr in dem sorglosen Einerlei des Lebens verborgen geblieben war und jetzt zu einer herrlichen Erkenntnis und Gewissheit wurde: "Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen."
"Wie Gott will", dachte da die Christin und kniete am Fenster nieder. Nun betete sie wie nie in ihrem Leben zuvor, und alles versank um sie her in einem Meer göttlichen Lichtes.
Der Lavastrom floss weiter. Nur noch wenige Meter, dann erreichte er den kleinen Besitz der Frau, die im Hause auf den Knien lag und kein Auge mehr für das hatte, was sich draußen ereignete. Aus ihrem heißen Bitten war ein freudiges danken, aus dem Schrei ihres Herzens ein kindliches Gespräch mit dem Vater im Himmel geworden.
Und weil sie betete und ihr Leben dem Herrn und Schöpfer aller Dinge übergeben hatte, sah sie nicht, dass sich der mächtige, breite, fressende und brennende Strom - wie von unsichtbarer Gewalt gezwungen - teilte, das Haus und das schmale Feld der Beterin umfloss und sich dann wieder zusammenschloss. Wie auf einer kleinen Insel stand das Häuschen inmitten der fließenden Glut und bewies allen, die es sehen wollte, dass Gott auch heute noch die Gebete seiner Kinder erhört, wenn sie von Herzen kommen. - 
Die fromme Chinesin lebte nach dieser Katastrophe, der mehre tausend Javaner zum Opfer fielen, noch viele Jahre, und alle, die sie und ihre wunderbare Errettung kannten, schauten ehrfürchtig zu ihr auf als einen Beweis der Kraft Gottes.

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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