Gott steht außerhalb der Zeit

Wir halten es für selbstverständlich, dass die Zeitfolge, dieses Gefüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, nicht nur für unser Leben gilt, sondern für alle Dinge. Wir neigen zu der Annahme, das ganze Universum und sogar Gott selbst bewegten sich ständig aus der Vergangenheit in die Zukunft, genau wie wir. Aber viele Gelehrte sind nicht dieser Ansicht. Die Theologen waren die ersten, die auf den Gedanken kamen, dass einige Dinge gar nicht in der Zeit sind. Später haben die Philosophen diesen Gedanken übernommen; und heute sind auch einige Naturwissenschaftler dieser Meinung.
Ziemlich sicher ist Gott nicht in der Zeit. Sein Leben besteht nicht aus aufeinander folgenden Augenblicken. Wenn heute abend um halb elf eine Million Menschen zu ihm betet, braucht er ihnen nicht in dem einen kleinen Augenblick zuzuhören, den wir halb elf nennen. Halb elf - und jeder andere Augenblick seit dem Anfang der Welt - ist für ihn Gegenwart. Wir können es auch so sagen: Ihm steht die ganze Ewigkeit zur Verfügung, um das Stoßgebet zu hören, das ein Pilot im Bruchteil einer Sekunde betet, wenn seine Maschine brennend abstürzt.
Ich weiß, diese Vorstellung ist schwierig. Ich will versuchen, ein ähnliches Beispiel zu geben. Nehmen wir an, ich schreibe einen Roman. Darin kommt folgender Satz vor: "Maria legte ihre Arbeit nieder; im nächsten Augenblick klopfte es an die Tür." Für Maria, die in der Phantasiezeit meiner Erzählung zu leben hat, liegt kaum eine Sekunde zwischen dem Niederlegen ihrer Arbeit und dem Klopfen an der Tür. Ich aber, als Marias Schöpfer, lebe nicht in dieser Phantasiezeit. Zwischen der Niederschrift der ersten und der zweiten Hälfte dieses Satzes sitze ich vielleicht drei Stunden da und denke unentwegt über Maria nach. Ich könnte über Maria so nachdenken, als wäre sie die einzige Gestalt in dem Buch, und so lange, wie ich will, und die Stunden, die ich damit zubringe, würden in Marias Zeit (der Zeit innerhalb der Erzählung) überhaupt nicht erkennbar sein.
Dies ist natürlich kein vollkommenes Beispiel. Aber es mag ungefähr einen Begriff von dem geben, was ich für die Wahrheit halte. Gott wird so wenig vom Zeitstrom der Welt fortgerissen wie der Schriftsteller von der Phantasiezeit seines Romans. Gott kann jedem von uns unbegrenzte Aufmerksamkeit schenken. Er braucht uns nicht "en masse" abzufertigen. Jeder einzelne steht so allein vor ihm, als wäre er das einzige Wesen, das Gott erschaffen hat. Als Christus starb, starb er für jeden einzelnen von uns so, als ob jeder von uns der einzige Mensch auf dieser Welt wäre. In einer Hinsicht ist mein Beispiel unzulänglich. In ihm wechselt der Schriftsteller nur aus einer Zeitrelation in die andere hinüber, aus der Zeit der Erzählung in die wirkliche. Aber Gott, so glaube ich, lebt überhaupt nicht in irgendeiner Zeitrelation. Sein Leben verrinnt nicht Sekunde für Sekunde wie unser Leben. Für ihn ist es sozusagen noch 1920 und schon hundert Jahre weiter. Denn sein Leben ist er selbst.
Wenn wir die Zeit als eine gerade Linie zeichnen wollen, auf der wir entlangreisen, dann müssen wir uns Gott als das ganze Blatt vorstellen, auf dem die Gerade gezogen wurde. Wir gelangen nacheinander zu den einzelnen Punkten der Linie. Wir müssen A hinter uns lassen, ehe wir zu B kommen, und können C nur erreichen, wenn wir B hinter uns lassen. Gott aber ist außerhalb und oberhalb und rund um diese Linie; er ist überall und überschaut sie ganz. (C. S. Lewis, 1898-1963)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1018
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