Gott läßt sich nicht spotten

Am 5. August 1949 ging die Sonne blutigrot über den Bergen um Banos, dem berühmten Kur- und Badeort des Hochlandes von Ekuador, auf. Die frühen Morgenspaziergänger betrachteten das ungewöhnliche Schauspiel mit großer Aufmerksamkeit, doch als gegen neun Uhr ein starker Regen einsetzte, suchten auch sie wieder ihre Hotels und Privatunterkünfte auf. Bald war das sonderbare Naturbild vergessen, und man gab sich dem Spiel und dem Tanz hin. Schließlich war man ja hier, um seinen Urlaub vergnügt zu verleben, um sich zu "amüsieren" und nicht, um Trübsal zu blasen. Einmal wollte man doch das kurze Leben genießen.
Ganz Banos lebte trotz des unfreundlichen Wetters in einem Taumel irdischer Freuden. Wenn man nicht hinaus ins Freie konnte, saß man an Spieltischen, in Schenken und Bars, tobte sich in zweifelhaften Häusern aus und trank feurigen Wein.
Für Gott aber hatte man keine Zeit. Natürlich gab es eine Kirche. Man suchte sie sogar auf, weil das ein überkommener Brauch war. Aber wenn man das Gotteshaus wieder verlassen hatte, dann dachte niemand mehr an die göttlichen Forderungen für das tägliche Leben. Ja, man hielt dafür, dass der liebe Gott geradezu verpflichtet sei, ein Auge zuzudrücken, zumal man an jedem Sonntag und vielleicht sogar zusätzlich in der Woche zur Messe ging.
Da es fast ununterbrochen regnete, hielten sich die meisten Kurgäste in dem herrlichen, riesigen Kurhotel auf.
Jazzkapellen und Indio-Tänzer unterhielten die sensationsgierigen Besucher im Wechsel mit wagemutigen Artisten, geistreichen Ansagern und bunten Revuen.
Gerade hatte ein Conferencier ein Spottgedicht über Adam und Eva im Paradiese deklamiert und unter dem Gelächter der Zuhörer zweideutige Betrachtungen über das erste Menschenpaar angestellt, als eine furchtbare Erschütterung das Haus wie ein Hängebett hin- und herwarf, dass es auseinanderbrach. Mit furchtbarem Gedröhn stürzten Dach und Mauern ein und begruben die vielen Menschen unter sich. Nur wenige arbeiteten sich vor Entsetzen und Schmerzen schreiend aus den Trümmern hervor und eilten auf die Straße. Da riss ein erneuter Stoß mit furchtbarem, tiefem Grollen in der Erde riesige Schlünde auf und verschlang viele Flüchtende.
Überall fielen jetzt die Häuser und Gebäude zusammen. Im Nu verbreitete sich ein Riesenfeuer, und immer noch schüttelte sich die Erdoberfläche, immer neue Abgründe wurden aufgerissen und fraßen Menschen und Ruinen, Tiere und Bäume. Gewaltige Wassermassen schossen aus der Tiefe der Erde hoch und spülten Leichen, Geröll und Häuserteile mit sich nach unten. Stellenweise kochte das schwefelhaltige Wasser und verbrühte die fliehenden Menschen. Andernorts wiederum ergoss es sich eiskalt über die zerfetzten, verschobenen, völlig verwüsteten Gärten und teilte sich in viele Wasserarme, die sich unaufhaltsam durch die Ruinen wanden.
Zuletzt brach auch die Kirche zusammen und wurde ein Grab vieler Menschen, die in ihrer Verzweiflung hineingeeilt waren, um den Gott, den sie vorher geschmäht und gelästert hatten, anzuflehen, dass er dem Beben Einhalt gebieten möge. Doch jetzt hörte dieser Gott nicht.
Schreiend und betend liefen irre Menschen durch die zerstörten Straßen, an Erschlagenen und Verwundeten vorbei. Dort hatte die Erde einen Menschen bis zum Kopf verschlungen. Er schrie, doch niemand half ihm. Der Friedhof hatte die Toten an die Oberfläche geschleudert. Kinder lagen zerschmettert am Boden. Mitleidslos wurde die Erde immer wieder geschüttelt und aufgerissen, als ob der Jüngste Tag hereingebrochen wäre.
Der Tag verging, und die Nacht kam. Noch immer grollte und brodelte es, und noch immer schwankte und taumelte die Erde. Fast alle Häuser waren völlig zerstört, die restlichen schwer beschädigt. Nur am Rande des Ortes stand eine kleine Hütte unversehrt, als ob sich nichts ereignet hätte.
Am nächsten Tage trafen die ersten Hilfsmannschaften aus den Nachbarländern mit Flugzeugen in Ekuador ein. Da lagen auf den Straßen und unter den Trümmern tausende Tote, ein Bild des Schreckens. Dreiundfünfzig Städte waren zerstört, darunter das einst herrliche, blühende Banos. Als die Leiterin einer südamerikanischen Wohlfahrtsorganisation, Senora Elvira, die man ihrer Güte wegen "Mutter der Armen" nennt, die Stätten des Unheils besichtigt und erste Hilfe gebracht hatte, kam sie auch zu dem einsamen Häuschen am Stadtrand. Sie ging hinein. Ein altes Mütterchen trat ihr mit den Worten: "Gott grüße Sie, liebe Schwester!", entgegen.
An der Wand des Zimmers, über einem bescheidenen Ruhebett hing ein Spruch. Senora Elvira las erstaunt:
"Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten! Denn, was der Mensch sät, das wird er ernten."

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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