Gott kann nicht so sein!

Der Gefängnispfarrer Eivind Berggrav erzählt in "Die Seele des Gefangenen" von einem Mann, der sich in der Untersuchungshaft bekehrte. Weil er den Eindruck hatte, dass der Antrieb zur Bekehrung eine Spekulation auf Gott war, um der langen Strafe zu entgehen, stellte er den Gefangenen auf die Probe: 
"Wenn es nun gerade Gottes Wille ist, dass Sie dies Schicksal haben sollen, wenn ich Ihnen nun direkt von Gott sagen könnte, dass Sie nicht freikommen, so sehr Sie auch glauben - würden Sie dann trotzdem an Gott glauben?" 
Er sah hilflos aus und schüttelte bloß den Kopf. Berggrav bat, ihm sagen zu dürfen, was nach seiner Meinung die Wahrheit über ihn selber sei. Er nickte. "Sie spekuliere in Religion, sie blasen sich auf; sie selber sind wie ein Fahrradschlauch, und da nehmen sie die Religion als eine Luftpumpe und benutzen sie, um sich so rund und üppig aufzublasen, dass es eine Lust ist, zu sehen, was für ein vollkommenes Gotteskind sie sind. Aber wenn ich bloß sage, dass Gott das Entgegengesetzte von dem, was sie wollen, will,  so bekommen sie ein Loch in den Schlauch, und alles Gas geht aus ihrem Ballon hinaus. Sie glauben, um ihren eigenen Willen durchzusetzen. Haben sie versucht zu sagen: 'Dein Wille geschehe' - und dabei sicher zu sein, dass Gottes Wille das Furchtbare ist?" 
"Das ist unmöglich", sagte er bloß, "Gott kann nicht so sein." 
Nach einigen Monaten schickte er mir die Nachricht, dass er die Strafe auf sich nehmen wolle. 
"Ja, das müssen sie freilich auf jeden Fall." 
"Das weiß ich, aber ich meine, nun will ich sie selbst auf mich nehmen, freiwillig. Wenn es Gottes Wille ist." 
Er war im Gegensatz zu früher sehr still geworden. Ich fragte: "Aber mein Lieber, was hat sie dazu gebracht, die Sache so anzusehen?" - Die Antwort lautete: "Ja, das will ich ihnen sagen, Herr Pfarrer, mir scheint, dass ich so klein geworden bin, und Gott so groß."

 

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 698
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