Gott ein X

Die Zahl x kann alles sein, und das gerade ist es, was sie bei den Mathematikern mit 
Recht so beliebt macht. Sie kann plus oder minus, hunderttausende oder nichts bedeuten. Es kommt nur darauf an, in welche Gleichung sie eingesetzt wird. Man nennt das eine Variante, wir können auch sagen: einen Hilfsbegriff. Und genau dasselbe ist für viele heute der Herrgott. Er ist ein Hilfsbegriff, den die Menschen dort einsetzen, wo sie mit ihrer Rechnung nicht weiterkommen. Dieser Hilfsbegriff gibt das ungeheuer beruhigende Gefühl, dass die Rechnung stimmt, selbst wenn sie nicht stimmen sollte. Schreibst du in einer Gleichung 5 = 10, so sagt alle Welt, du bist ein Narr. Schreibst du aber 5 x = 10, so bist du ein Mathematikus, und alle Welt steht vor deiner Weisheit still. Und so ist das nun auch im Leben. Würde ich hingehen und sagen: Ich bin eine Gott und habe die Welt erschaffen, so würde jedermann sagen, du bist ein Narr. Sage ich aber: Ich bin ein Teil der göttlichen Allseele, und diese Allseele ist der Ursprung alles Lebendigen und Toten, so bin ich ein Philosoph, und selbst Universitätsprofessoren beginnen mich ernst zu nehmen. Der große Vorteil bei diesem x ist, dass ich nicht an eine bestimmte Bedeutung dieses x gebunden bin. Ich habe es jeweils in der Hand, diese Bedeutung so zu bestimmen, wie sie in meine Gleichung passt. Ich kann nicht nur schreiben: 5 x = 10, wobei x soviel ist wie 2, sondern ich kann auch schreiben: 20 x = 10; dann ist x = 1/2. Das x ist stets diejenige wechselnde Ergänzungsgröße, die zu meiner Gleichung hinzutreten muss, damit meine Rechnung jeweils stimmt. So hat der Herrgott auch die Aufgabe, die Menschen jeweils in seelischem Gleichgewicht zu halten. Da die Menschen aber verschieden sind, brauchen sie auch verschiedene religiöse Ergänzungsmittel. So müsste nun eigentlich, wie im Altertum, jeder Beruf und jedes Volk seinen eigenen Gott haben. Aber der Mühe dieser Vielgötterei sind wir heute enthoben. Ich brauche einfache für das, was mir jeweils artgemäß ist, die Zahl x oder das Wort Herrgott einzusetzen, so stimmt es immer, und ich kann mit jedermann in Frieden leben. Nur die Christen weigern sich, für ihren Gott jene ausgezeichnete Zahl x einzusetzen. Sie sind anmaßend genug, zu behaupten, Gott sei auch für uns Menschen nicht mehr eine schlechthin unbekannte Größe x, denn Gott habe seinen Willen seine Heiligkeit und seine Liebe unveränderlich geoffenbart in der Geschichte von Jesus Christus. Seitdem müsse sich unsere Lebensgleichung nach Gott, und nicht Gott nach uns und unseren Bedürfnissen richten.
In "Männergemeinde" 1937, Nr. 9.

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 1197
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