Gott an seinen Werken erkennen

Wir waren eine lustige Reisegesellschaft, die in einem Schnelldampfer den Rhein hinunterfuhr. In Mainz waren wir an Bord gegangen, und erst in Köln wollten wir das Schiff wieder verlassen. Es ging vergnügt zu, wie es sich eben für eine richtige Rheinfahrt geziemt. Die Sonne schien warm auf die Rebenhänge am rechten Ufer, die Landschaft veränderte sich in jeder Minute, und wir kamen gar nicht aus dem Bewundern heraus. Mal traten die Berge weiter zurück, dann wieder schoben sie sich steil und trotzig bis an den Fluss vor, hin und wieder kuschelten sich kleine Dörfer und Städte zu ihren Füßen oder krochen die schmalen Täler hinauf. Nur die Burgruinen blickten kühl und sicher oder auch in stummer Anklage hinunter.
"Sehen Sie jenes Schloss, dessen Türme von riesigen Bäumen überragt werden? Sie sind wohl ebenso alt wie die Burg selbst", meinte jemand.
"Was ist damit?", fragte ich in der Erwartung, eine Geschichte zu hören, und ich hatte mich nicht getäuscht.
Vor nunmehr 150 Jahren wohnte auf jenem Schloss, dessen linker Flügel während des letzten Krieges von Bomben zerstört worden ist, ein Baron, der wegen seiner Mildtätigkeit und wegen seiner Frömmigkeit weit und breit beliebt war. Er hatte nur einen Sohn, aber der war seinem Vater nicht allein eine gute Stütze im Alter, sondern erwies sich auch als ein Segen für alle Arbeiter und Angestellten auf dem Gutshofe, der zum Schloss gehörte. Mitunter kam der junge Mann tagelang nicht nach Hause, weil er gleichzeitig ein abgelegenes Vorwerk zu verwalten hatte.
So war es auch, als der Baron eines Tages den Besuch eines französischen Grafen erhielt, der seine Abneigung gegen das Christentum nicht verhehlte und in seinen Worten keinerlei Rücksicht auf die Empfindungen des Barons nahm. Als er während des Gesprächs lästerliche Reden führte, rief der alte Mann erschreckt aus: "Aber, mein lieber Graf, fürchten Sie sich gar nicht vor dem Zorn Gottes?"
Der Franzose antwortete spöttisch: "Wie soll ich mich vor ihm fürchten, wo ich ihn überhaupt noch nie zu Gesicht bekommen habe!"
Der Baron erwiderte nichts auf diese ungezogene Bemerkung. Am nächsten Morgen lud er seinen Gast zu einem Rundgang durch das Schloss und zu einem Ausflug in die Umgebung des Gutes ein.
Im Schlosssaal hing ein sehr schönes Gemälde, das jedem Besucher sofort auffiel. Auch der Graf blieb unwillkürlich stehen und bewunderte das Bild.
"Der das gemalt hat, war gewiss ein bedeutender Künstler", meinte er schließlich nach langem Betrachten. "Das Bild könnte durchaus im Louvre hängen."
Der Baron lächelte fein. "Mein Sohn hat es gemalt", antwortete er dann schlicht. "Ja, es ist ihm gut gelungen."
In seiner überschwänglichen Art pries nun der Franzose den Sohn seines Gastgebers als einen überaus begabten, jungen Menschen. Der Baron aber schwieg.
Die beiden Männer verließen das Schloss und gingen in den Garten, der gut angelegt und sorgsam gepflegt war. Der Graf hatte einen Blick für die Zweckmäßigkeit und die künstlerische Schönheit der Anlagen und sagte: "Ich muss Ihren Gärtner loben, lieber Baron, Sie können mit ihm zufrieden sein. Die Anlagen sind wirklich großartig in ihrer Planung und Durchführung."
"Mein Sohn ist der Gärtner", antwortete der Schlossherr, "er kennt hier jede Pflanze, von den Obstbäumen, Ziersträuchern und den Gemüsearten bis zu den Unkräutern, die in den Mauerritzen wachsen."
"Da muss ich Ihren Sohn aber loben", versetzte der Franzose, "ich fange an, ihn zu schätzen, obwohl ich ihn leider noch nicht kennen lernte."
Der leichte Einspänner brachte den Baron mit seinem Gast schnell ins nahe Dorf, das auch zu den Gütern des Barons gehörte. Dort hatte sein Sohn kleine Häuser für Angestellte und Arbeiter des Hofes gebaut, ferner ein Waisenhaus, dem eine Schule angegliedert war, in der er die Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, aufnehmen und auf seine Kosten erziehen und unterrichten ließ. All das zeigte der Baron seinem Gast.
"So etwas ist mir aber auch noch nicht vorgekommen", wunderte sich der Graf, "Ihr Sohn ist ja ein Prachtmensch! Und wie freudig und glücklich die Kinder des Waisenhauses aussehen! Sonst sehnen sich die Kleinen meistens hinaus. Hier scheinen sie sich wie zu Hause zu fühlen."
Die Kutsche hatte der Baron nach Hause geschickt, und so schritten die beiden Männer nun langsam den Weg zum Schloss hinauf. Nach langem Schweigen sagte der Franzose anerkennend und begeistert: "Was müssen Sie für ein glücklicher Mann sein, Baron, dass Sie einen so guten, klugen und künstlerisch begabten Sohn haben."
Der greise Schlossherr blieb stehen. "Woher wissen Sie denn, dass mein Sohn gut, klug und künstlerisch begabt ist?", fragte er, und ein kleines, weises Lächeln spielte um seine Lippen.
"Ich habe doch gesehen, was er geleistet hat." Der Graf sagte es und wies auf das Dorf hinunter, aus dem der fröhliche Lärm der Waisenkinder herauf klang. "Ich muss schon annehmen, dass er gut und geschickt ist."
"Aber Sie haben ihn doch gar nicht gesehen", entgegnete der Baron hartnäckig, aber der Schalk blitzte aus seinen Augen.
"Das nicht", gab der Franzose zu und fuhr fort: "Trotzdem kenne ich ihn sehr gut, denn ich kann ihn ja nach seinen Leistungen und an seinen Werken beurteilen."
Da sagte der Baron ernst und betonte jedes Wort: "Sie haben Recht, lieber Graf, und auf diese Weise beurteile ich meinen himmlischen Vater. Ich kenne ihn aus seinen Werken und weiss, dass er voll unendlicher Weisheit, Macht und Liebe ist."
Dem Franzosen war der Spott vergangen. Er fühlte heraus, was der fromme Greis ihm sagen wollte, und hütete sich, seinen Gastgeber weiterhin durch unüberlegte Reden zu verletzen. Sooft er später versucht war zu spotten, erinnerte er sich der Worte des Alten. -
Der Fahrgast auf dem Schnelldampfer von Mainz nach Köln hatte nicht laut gesprochen, aber dennoch hatten wir alle seinen Worten gelauscht. Schon lange war das Schloss unseren Blicken entschwunden, aber die Erinnerung an die von riesigen Bäumen überragten Türme, Zinnen und Giebel und an die kahlen Mauerreste des ausgebombten und ausgebrannten, linken Flügels wird in uns bleiben, und sie wird belebt sein durch den frommen, alten Baron und seinen spöttelnden Gast.

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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