Gerüchte - eine schlimme Aussaat
Im Grunde ihres Herzens war Frau Barbara nicht bösartig, sondern nur oberflächlich, gedankenlos, überaus neugierig und schwatzhaft. Dadurch aber war sie zum Schrecken des Städtchens geworden, in dem sie wohnte. Es gab nichts, was sich in der Ortschaft zutrug, kein Ereignis im Privatleben ihrer Mitbürger, dass Frau Barbara nicht erfahren hätte; denn sie besaß ein außergewöhnliches Geschick, all diese Dinge aufzuspüren. Wenn sich in ihrem Wissen doch irgendwie und irgendwo noch eine Lücke zeigte, so half sie eben mit ihrer regen Phantasie ein wenig nach. Natürlich war sie eifrig damit beschäftigt, ihre Neuigkeiten an den Mann bzw. an die Frau zu bringen, was ihr dadurch erleichtert wurde, dass es leider für die meisten Menschen einen gewissen Reiz besitzt, allerlei Dinge über ihre Mitmenschen zu erfahren. So fand sie bedauerlicherweise mehr offene Ohren, als dies für das allgemeine Wohl zuträglich war, wie es wohl auch heute noch anderwärts zuzugehen pflegt.
Frau Barbara versah also in ihrem Heimatort gewissermaßen die Funktion einer Zeitung, und ihr Tag war mit der Ausübung dieses "Nachrichtendienstes" bisweilen so ausgefüllt, dass ihr kaum Zeit für die notwendigen Verrichtungen in ihrem Haushalt übrigblieb. Die Folgen kann man sich zur Genüge ausmalen. Es gab kaum ein Missverständnis oder einen Streit im Ort, bei dem man, wenn man seinem Ursprung nachging, nicht auf Frau Barbara stieß.
Unsre Geschichte spielte sich vor ungefähr 250 Jahren ab, es wird jedoch behauptet, dass es auch in unsern Tagen noch Leute vom Schlage der Frau Barbara gibt.
Da hatte sie wieder einmal großes Unheil angerichtet. Durch ein Gerücht, das dank ihrer unermüdlichen Zunge im ganzen Ort die Runde machte, waren sich zunächst zwei angesehene Bürgersfrauen in die Haare geraten. Wie es in solch einem Fall nicht anders möglich ist, wurden auch die Ehemänner in den Streit hineingezogen. Er breitete sich auf die beiderseitige Verwandtschaft aus, bis sich im Ort schließlich zwei Parteien gegenüberstanden und das Feuer der Zwietracht hell aufloderte.
Diesmal war es besonders arg geworden, und Frau Barbara selbst fühlte sich etwas schuldbewusst. Es war ihr nicht wohl zumute, und sie bereute es, ihrer Zunge so freien Lauf gelassen zu haben. Aber das machte das Ganze nicht ungeschehen. Außerdem bedauerte sie lediglich die Folgen ihrer Handlungsweise, nicht aber ihre Schwatzhaftigkeit selbst. Eine derartige Reue hat natürlich wenig Wert, da sie nicht die Gewähr bietet, dass die verwerfliche Tat das nächstemal tatsächlich unterbleiben wird.
Die Lage wurde schließlich so gespannt, dass der Bürgermeister des Städtchens, der ein sehr kluger Mann war, in die Angelegenheit eingriff und zwischen den streitenden Parteien vermittelte. Dann aber wollte er Frau Barbara endlich einmal eine Lehre erteilen und ließ sie zu sich rufen.
Man kann sich vorstellen, dass ihr Gewissen schlug und sie nur schweren Herzens der Einladung folgte. Sie rechnete mit einem strengen Verweis, wenn nicht gar mit einer gerichtlichen Klage. So klopfte sie am nächsten Tag sehr zaghaft, wie es sonst nicht ihre Art war, an die Tür des bürgermeisterlichen Amtszimmers und trat bescheiden ein.
Wie groß war aber ihr Erstaunen, als der Bürgermeister nach kurzem Gruß, ohne viel zu sagen, eine Schublade seines Schreibtisches öffnete und ihr einige reife Distelköpfe entnahm, die er Frau Barbara aushändigte. Er gab ihr dabei die Anweisung, den Samen dieser Disteln vor den Mauern der Stadt auszustreuen und am nächsten Tag wiederzukommen, um ihm die Ausführung des Auftrages zu melden. Damit war sie entlassen. Frau Barbara konnte sich nicht genug über die sonderbare Arbeit wundern, die ihr befohlen worden war; im übrigen aber war sie froh, so gut davongekommen zu sein, und begab sich hinaus auf die Felder, wo sie den Distelsamen weisungsgemäß ausstreute.
Am nächsten Tag erschien sie wieder beim Bürgermeister und berichtete: "Ich hab getan, wie Ihr befohlen habt." Der Bürgermeister nickte, dann gebot er weiter: "Ihr geht wieder hinaus auf die Felder, lest den Samen auf, den Ihr gestern ausgestreut habt, und bringt ihn zurück. Aber wohlgemerkt, nicht ein Körnchen darf fehlen!" Frau Barbara starrte den Bürgermeister entsetzt an, denn sie glaubte, er habe plötzlich den Verstand verloren. Endlich brachte sie stotternd hervor:
"Aber - aber - Herr Bürgermeister, was Ihr da verlangt, das ist - doch rein - unmöglich auszuführen!"
Der grauhaarige Bürgermeister sah die Frau ernst an, als er erwiderte: "So, das ist unmöglich, meint Ihr? Wisst Ihr aber auch, dass Ihr seit Jahr und Tag viel Schlimmeres ausgestreut habt als den Distelsamen, den Ihr gestern in die Felder warft? Gerüchte, die meist jeder Grundlage entbehrten, Verdächtigungen, die den guten Ruf anderer Menschen untergraben haben, versteckte Anspielungen auf die Geheimnisse Eurer Mitbürger - das alles habt Ihr in den Wind gestreut wie gestern den Distelsamen. Diese Aussaat hat Wurzeln geschlagen und beginnt, eine schlimme Ernte zu zeitigen. Wer soll all die unnützen Worte, die Ihr im Laufe der Zeit gesprochen habt, auflesen und unschädlich machen können? Ihr selbst könnt es nicht, und auch ich bin dazu nicht imstande. Selbst wenn es mir gelingt, den Streit zu schlichten und das Schlimmste zu verhüten, bleiben doch Verbitterung und Argwohn in den Herzen zurück. Das bisherige Vertrauen zwischen den Familien ist zerstört - vorläufig wenigstens, vielleicht sogar für immer. Wie wollt Ihr das jemals vor Gericht verantworten?"
Frau Barbara war völlig niedergeschmettert und konnte nichts erwidern. Der Bürgermeister aber fuhr in milderem Ton fort: "Es hat wenig Zweck, Euch Vorwürfe wegen des Vergangenen zu machen. Das lässt sich nicht mehr ändern. Aber lasst Euch dies zur Warnung dienen und hütet Eure Zunge! Es könnte sonst sein, dass Ihr selbst einmal an der Ernte Eurer bösen Saat teilnehmen müsst."
Die Schwätzerin stand völlig geknickt vor dem Bürgermeister, dass er sich eines Lächelns nicht erwehren konnte.
"Für heute mag dieser Verweis genügen", sagte er und fuhr fort: "Sobald ich aber noch einmal erfahre, dass Ihr, Frau Barbara, einen neuen Klatsch in die Welt setzt, dann lasse ich Euch an den Pranger stellen, damit alle Einwohner sehen, wer seine böse Zunge nicht im Zaume halten kann."
Frau Barbara versprach hoch und heilig, sich bessern zu wollen, und da der Chronist hier seinen Bericht abbricht, nehmen wir an, dass sie ihr Wort gehalten hat.
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