Gehe nach B.!
Vor einer Reihe von Jahren wurde Herr U., ein Beamter auf dem Lande, in der Nacht wach. Er hatte die Worte gehört: "Gehe nach B.!" Eine Zeitlang dachte er darüber nach und schlief wieder ein. Da vernimmt er im Traum nochmals dieselben Worte und wird aufs neue wach. Lange wälzt er sich nun hin und her auf seinem Lager; denn er verspürt nicht die geringste Lust, nach B. zu gehen. B. war die nächste Stadt; Herr U., der manches Mal in Geschäften dorthin musste, brauchte zu Pferde über zwei Stunden zu diesem Wege. Endlich schläft er wieder ein. Nun hört er zum dritten Male den Ruf: "Gehe nach B.!"
Jetzt steht U. auf, lässt sein Pferd satteln und reitet nach B., denkt aber unterwegs: "Nützen wird dir dein guter Wille zwar doch nichts; denn es ist um die frühe Stunde noch kein Fährmann am Fluss, um dich überzusetzen. "Wie erstaunte er aber, als er den Mann schon auf seinem Posten sieht; dieser hatte am vorhergehenden Abend durch einen Boten die Meldung bekommen, heute sehr früh an der Fähre zu sein, ein Herr wolle in aller Frühe über den Strom; derselbe war aber bis jetzt noch nicht erschienen. "Wie merkwürdig!" dachte U. Vor acht Uhr schon war er in B. Er stieg in einem Gasthof ab und frühstückte. Dort hörte er, dass heute Vormittag Schwurgerichtsverhandlung sei. Da er nicht weiß, was er in B. soll, denkt er: "Da gehst du mal hin!" Er geht in den Gerichtssaal und mischt sich unter die Zuhörer.
Ein Bergmann, der des Mordes dringend verdächtig ist, seine Unschuld aber beteuert, steht vor den Schranken. Er hat nicht vermocht, sein Alibi zu beweisen, d. h. darzutun, dass er um die Zeit des Mordes anderswo gewesen ist. So soll er denn als "schuldig" verurteilt werden. Der Angeklagte blickte still in den Zuhörerraum. "Da", ruft er, indem er auf U. zeigt, "Gott sei Dank, da ist der Mann, der mich retten kann!" U. wird vom Richter herbeigerufen, über Namen und Stand befragt und, da er bekannt ist, vereidigt und verhört. "Ja", sagte U. aus, der sich nun den Angeklagten, dessen Namen er hört, genau besieht, "den Mann habe ich in der Tat an jenem Tage zur genannten Stunde gesehen. Er beantwortete mir im Gebirge, wo er mir als Bergmann begegnete, eine Reihe von Fragen, und ich ließ mir auch von ihm sagen, wer er sei." U. konnte sogar dem Gerichtshof den Namen des Angeklagten in seinem Notizbuch zeigen, in das er Bemerkungen von jener Reise eingetragen hatte. - Damit war das Alibi des Bergmanns, der seinerseits Namen und Wohnort des U. nicht gekannt, klar bewiesen, und seine Freisprechung erfolgte. - Nun wusste U., warum er in der Nacht immer wieder gehört hatte: "Gehe nach B.!"
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