Gebet um eigene Verdammnis?

Samuel Gilpin war ein alter Pfarrer, der es mit seinem Amt sehr ernst nahm. Eines Abends traf es sich, dass er hinter ein paar Arbeitern, die auf dem Heimweg waren, herging. Da hörte er, wie einer von ihnen ganz gotteslästerlich fluchte. Gilpin kannte den Mann nicht und folgte deshalb einer sofortigen Eingebung, den Flucher zu warnen, nicht.
Zu Hause angelangt, ließ ihn die Sache aber nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder hieß es in ihm: Du hättest den Flucher warnen sollen! Bis in die Nacht hinein verfolgte ihn dieser Gedanke. Schließlich entschloss er sich, am anderen Morgen früh aufzustehen, um wenn möglich dem Flucher auf seinem Weg zur Arbeit zu begegnen.
Das Warten Gilpins war nicht umsonst. Der Mann kam dieselbe Straße entlang, auf der er am Abend vorher nach Hause gegangen war. Freudig ging der alte Pfarrer auf ihn zu und sagte: "Ich bin froh, Sie zu sehen, ich habe auf Sie gewartet!"
Der Mann blieb erstaunt stehen und erwiderte: "Da irren Sie sich wohl! Ich kenne Sie nicht!"
"Ich Sie auch nicht", sagte Gilpin, "aber ich sah Sie gestern Abend und möchte Ihnen etwas Wichtiges sagen."
Der Mann wurde schon etwas ungeduldig und brummte vor sich hin:
"Das muss ein Irrtum sein. Ich jedenfalls habe Sie noch nie gesehen."
"Da haben Sie ganz recht! Ich ging nämlich gestern Abend hinter Ihnen her und hörte, wie Sie beteten!"
Mit einem Ruck drehte sich der Mann gegen den alten Pfarrer. "Ich  -  gebetet?!" Ein spöttisches Lächeln zog über sein Gesicht. "Da irren Sie sich aber mächtig! Ich habe in meinem Leben wohl noch nie gebetet."
Mit tiefem Ernst sagte Gilpin: "Doch, lieber Mann, Sie haben gebetet. Und wenn Gott Ihr Gebet sofort erhört hätte, dann wären Sie jetzt nicht mehr auf dem Weg zur Arbeit. Sie sagten nämlich mehrmals: 'Gott verdamme mich!' Sie haben also Gott gebeten, Sie zu verfluchen und Ihre Seele zu verdammen."
Da erbleichte der Mann. "Ja, wenn Sie das beten nennen, dann habe ich es freilich getan."
"Ich wollte Sie nur bitten, von nun an ebenso eifrig um die Errettung Ihrer Seele zu beten, wie Sie bisher um Ihre Verdammung gebetet haben. Auch ich will Gott bitten, dass er sich über Sie erbarme", sagte Gilpin.
Der Flucher war von dem Mut und der Güte des alten Pfarrers so bewegt, dass er sein Fluchen aufgab. Er suchte und fand Frieden und Vergebung bei Gott und damit ein neues Leben.

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 70
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