Gebet für Stalin

Von Josef Stalin (1879-1953) wissen wir, dass er einen abgrundtiefen Hass gegen die Kirche hatte. Weniger bekannt ist die abergläubische Scheu dieses ehemaligen Priesterzöglings vor einer übernatürlichen Macht. Der russische Komponist und Dirigent Schostakowitsch (1906-1975) berichtet in seinen "Erinnerungen" von einer bewegenden Begebenheit. Der grausame Despot aus Georgien war ein Liebhaber klassischer Musik. Kurz vor seinem Tode hörte er im Rundfunk eine junge Pianistin meisterhaft Mozart spielen. Stalin ließ im Studio anrufen, man solle ihm die Schallplatte bringen. Dass es diese Platte nicht gab, wagte ihm niemand zu sagen. Noch in derselben Nacht fertigte man eine Aufnahme an.
Stalin war so tief beeindruckt, dass er einen Dankesbrief und 22.000 Rubel an die junge Künstlerin schickte. Die Pianistin schrieb zurück: "Dieses Geld gebe ich der Kirche, in der ich für die Vergebung Ihrer Sünden beten werde." Die davon erfuhren, fürchteten um das Leben der Künstlerin. Doch es geschah, was niemand für möglich gehalten hätte: Der Diktator legte den Brief beiseite und schwieg nachdenklich. War es Erschöpfung? - War es elementare Furcht im Wissen um die Nähe seines Todes? Oder sollte etwa der Gedanke in ihm aufgekommen sein, das Gebet der jungen Künstlerin könnte eine reale Macht haben?
(Alfred Ziegner)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1345
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