Führe mich in Versuchung! Ich will mich erproben!

Eine Frau, die die Freuden der Welt, Sport und Tanz, Gesellschaft und Verkehr mit prächtigen Menschen, Kunst und Natur mit vollen Zügen genoss, wurde von einem stolzen Siegesbewusstsein gepackt. In diesem Gefühl der Überlegenheit betete sie, aber anders als fromme Menschen beten. "Herr", sprach sie, "führe mich in Versuchung! Ich will mich erproben und dir beweisen, dass ich stark bin und widerstehen kann. Die Versuchung soll recht schwer kommen, damit mir dann auch die Ehre des Sieges recht zuteil wird." 
Und sie kam in Gestalt eines Mannes, der ihr Lehrer in der Literaturgeschichte war. Man warnte sie vor dem Umgang mit ihm. Aber in ihrem Kraftbewusstsein achtete sie nicht darauf, und die finstere Stunde, da sie jämmerlich unterlag, kam. Ihr Wille war ohnmächtig, und die Qualen wurden unerträglich, als ihr die Frau des Professors von Tag zu Tag mehr Vertrauen schenkte. Sie wollte bekennen, aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt. 
Ihre Angehörigen stießen sie aus, und trotzig zog sie in die Fremde, ohne Ruhe zu finden. Da starb jene Frau, und der Hochzeit mit dem Geliebten stand äußerlich nichts mehr im Wege. Aber o weh! Ohne den Bund mit ihr gelöst zu haben, ging der Mann eine Verbindung mit einer Schauspielerin ein. 
Gebrochen an Leib und Seele kehrte sie heim ins Vaterhaus. Leise regte es sich in ihrer Brust, und versunkene Glocken fingen an zu läuten. Jesus sprach in ihrer Seele: "Bist du nun fertig?" 
"Ja, ich bin fertig." 
Da fuhr er fort: "Wenn du fertig bist, dann werde ich anfangen. Das Trümmerfeld deines Lebens ist mir gerade recht." 
Und er fing ein neues an. Im Glauben stellte sie sich auf das Wort: "Durch seine Wunden bin ich geheilt." 
"Und siehe da, die Last fiel herunter", so bekannte die Frau, "die Stricke sprangen entzwei, und ich wurde frei, wirklich frei. Jesus ist nun mein König geworden, Leib und Seele, alles gehört ihm. Mir ist viel vergeben, deshalb will ich auch viel lieben."

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 232
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