Friedrich von Bodelschwingh verliert seine Kinder
Es war im Jahre 1868. Alle vier Kinder jubeln auf, als im Pfarrhaus zu Dellwig bei Unna die Tür zum Weihnachtszimmer geöffnet wird. Dort liegen schöne Geschenke für sie bereit. Friedrich von Bodelschwingh liest seiner Familie aus der Heiligen Schrift vor. Seine Frau hält Karl, das jüngste der Kinder, auf dem Arm. Die hellen Stimmen der Kinder singen die alten Lieder. Und ihre Augen glänzen, wie nur Kinderaugen glänzen können. Und dankbares Glück erfüllt die Herzen der Eltern.
Vier Kinder hat Gott ihnen geschenkt. Da ist Ernst, ein kluger, echter Junge, der über die Kieselsteine der Ruhr ebensoviel wissen will wie über Sonne, Mond und Sterne. Und dann Elisabeth, ein liebes, rücksichtsvolles Mädchen. Sie ist darauf bedacht, der Mutter zu helfen, wo sie nur kann. Der kleine Friedrich reitet verzückt auf seinem Spielzeugpferd, ein vom Großvater geschenktes Pelzmützchen auf dem Kopf. Und mitten in all dem Familienglück ist das freudige Lallen von dem Kleinsten, von Karlchen, zu hören. Die Mutter richtet ihre Augen auf Ernst. Was ist nur los mit ihm? Er ist stiller als sonst. Schon seit Tagen leidet er an einem harten, quälenden Husten. Und in den nächsten Tagen verschlimmert sich sein Zustand. Ernst muß das Bett hüten. Der herbeigerufene Arzt, Dr. Kipp, macht ein besorgtes Gesicht. »Stickhusten«, sagt er, »ein gefährlicher, bösartiger Stickhusten. Ich muss es leider sagen.«
Die Eltern sind bestürzt. Denn Stickhusten ist ansteckend - und offensichtlich hat diese Krankheit auch bei den anderen schon begonnen. Friedrich, Elisabeth, Karl - sie alle beginnen mehr und mehr zu husten. Der Arzt kommt wieder. Er stellt fest, dass bei Ernst eine Lungenentzündung hinzugekommen ist. Er untersucht die anderen drei Kinder. Und das Ergebnis ist niederschmetternd: Auch sie haben alle drei Stickhusten, auch bei ihnen sind die Lungen bereits mitangegriffen. »Besteht eine Gefahr für Ernst?« fragt Bodelschwingh. »Sie müssen mit allem rechnen«, lautet die ehrliche Antwort des Arztes. Der Jubel im Pfarrhaus ist längst verstummt. Tag und Nacht ist nur das Husten der Kinder zu hören. Ist das eine Kind still, atmet es nach einem qualvollen Anfall endlich wieder ruhig, beginnt das andere, das dritte, das vierte beängstigend zu husten. Und die Lungenentzündung greift weiter um sich.
In der Nacht zum 12. Januar versucht die Mutter, die kalten Hände und Füße des kleinen Friedrich zu wärmen. Er streckt ihr seine Hände entgegen, um auf den Schoß genommen zu werden. Still weint Mutter Bodelschwingh vor sich hin. Da recken sich mit letzter Kraft seine kleinen Hände und wischen der Mutter die Tränen aus dem Gesicht. Nur wenige Minuten später steht das Herz des kleinen Friedrich still.
Elisabeth kämpft leise und ohne Klage. Sie will den Eltern keinen Kummer machen. Sie will sie trösten, bis zuletzt. Als sie in der Nacht zum 20. Januar aus leichtem Schlaf auffährt, weil ihr der Husten den Atem abdrückt, nimmt Vater Bodelschwingh sie aus dem Bett auf seinen Schoß. Er umschlingt sein Töchterchen, als könnte er das fliehende Leben halten. Aber vergeblich. Auch Elisabeth schließt ihre lieben Augen.
Karl, das jüngste Kind, liegt in seinem Bettchen. Schon vierzehn Tage ist er nun krank. Und er wird immer stiller. Ganz ohne Klage, ohne Irgendein Zeichen der Not duldet er. Und schließlich liegt er dort als sei er schon nicht mehr von dieser Welt. Es ist Sonntagabend, der 24. Januar, als er ohne Schmerz und Kampf entschläft.
Bodelschwinghs Hände zittern, und sein Gesicht ist fahl, als er am Tag darauf wieder am Bett seines ältesten Kindes Ernst wacht. Dieser tapfere Junge hat am längsten gekämpft - und am schwersten. Vater und Mutter sind am Ende der seelischen und körperlichen Kräfte. Sie haben gebetet, gewacht, gepflegt, zwei Kinder begraben. Erschütterte Freunde kommen ins Haus. In das Haus, in dem nun schon ein dritter kleiner Sarg steht. Und nur einen Tag später, am 25. Januar, hat auch Ernst ausgelitten. Innerhalb von zwei Wochen müssen Vater und Mutter Bodelschwingh ihre vier Lieblinge hergeben.
Das einst so lebensprühende Haus ist ausgestorben. Ausgestorben im wahrsten Sinne des Wortes.
Friedrich von Bodelschwingh ist 38 Jahre alt, als diese Prüfungen ihn treffen. Seiner Frau Ida, fünfunddreißigjährig, wird das Haar weiß. Dann beginnt es auszufallen, und sie muss eine Haube tragen. Ihr Mann fürchtet, sie könne unter dem Leid zerbrechen. Und wahrscheinlich fürchtet er dasselbe von sich.
Angesichts dieser schweren Wege, die diese Eltern gehen mussten, kommen uns alle menschlichen Worte unsagbar leer und vergeudet vor. Wir werden an die drei Freunde Hiobs erinnert, die zu ihm kamen, sieben Tage und Nächte mit ihm auf dem Erdboden saßen, »und keiner redete ein Wort zu ihm, denn sie sahen, daß der Schmerz sehr groß war«
(Hiob 2, 13). Doch wer dann das weitere Leben dieser beiden verfolgt, sieht mit Erstaunen, welch großes Werk christlicher Nächstenliebe Gott mit ihnen beginnen konnte. Es lohnt sich, die Geschichte der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel zu lesen.
Ein Friedrich von Bodelschwingh hatte es gelernt, in allem Leid sagen zu können: »Vater, ich verstehe dich nicht, aber ich vertraue dir!« Durch sein persönliches Leid wurde er zugerüstet, dem Leiden vieler Menschen zu begegnen und es zu lindern.
Gerade erreicht mich die Nachricht, wie ein junger Verwandter auf einer Segelbootfahrt von Helgoland nach Föhr in einen Sturm geraten und verschollen ist. Erst vierundzwanzig Jahre ist er alt, und er steht kurz vor seinem medizinischen Doktorexamen. Die Eltern sind zutiefst gebeugt, aber gehalten in der Gnade Gottes.
Sieben lange Wochen zwischen Hoffen und Bangen vergehen. Dann wird der Ertrunkene an Land gespült. In der Traueranzeige steht das Wort: »Gebet Majestät unserem Gott! Der Fels: vollkommen ist sein Tun, denn alle seine Wege sind recht« (5. Mose 32,4). Nur der Glaube kann so sprechen - wenn auch unter Tränen.
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